Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vom Ende einer Geschichte

Vom Ende einer Geschichte

Titel: Vom Ende einer Geschichte
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
Vom Netzwerk:
von unseren Pflichten als Mensch und Sohn ablenken, und die bestanden darin, zu lernen, Prüfungen zu bestehen, mithilfe dieser Qualifikationen eine Arbeitsstelle zu finden und sich dann eine Lebensweise anzueignen, die auf nicht bedrohliche Weise erfüllter war als die unserer Eltern und deren Beifall fand; dabei würden sie diese Lebensweise insgeheimmit ihrem eigenen früheren Leben vergleichen, das einfacher und somit von höherem Wert gewesen wäre. Natürlich wurde nichts davon je ausgesprochen: Der vornehme Sozialdarwinismus der englischen Mittelschicht wirkte immer im Verborgenen.
    »Alles alte Arschlöcher, die Eltern«, beklagte sich Colin eines Montags in der Mittagspause. »Wenn man klein ist, findet man sie in Ordnung, und dann merkt man, dass sie genauso sind wie …«
    »Heinrich der Achte, Col?«, schlug Adrian vor. Allmählich gewöhnten wir uns an seine ironische Art wie auch daran, dass sich diese Ironie jederzeit gegen uns richten konnte. Wenn er uns neckte oder zur Ernsthaftigkeit aufrief, nannte er mich Anthony; aus Alex wurde Alexander und der nicht verlängerbare Name Colin zu Col verkürzt.
    »Meinetwegen könnte mein Dad ruhig ein halbes Dutzend Frauen haben.«
    »Und unglaublich reich sein.«
    »Und von Holbein gemalt werden.«
    »Und den Papst in die Wüste schicken.«
    »Gibt es einen besonderen Grund, warum sie AAA sind?«, erkundigte sich Alex bei Colin.
    »Ich wollte, dass wir alle zusammen auf den Jahrmarkt gehen. Sie meinten, sie müssten am Wochenende im Garten arbeiten.«
    Okay: Alte Arschlöcher. Außer für Adrian, der sich unsere Schmähungen anhörte, aber nur selten mit einstimmte. Und doch hatte er, wie uns schien, mehr Grund dazu als andere. Seine Mutter hatte sich vor Jahren aus dem Staub gemacht und es seinem Dad überlassen, mit Adrian und seiner Schwester zurechtzukommen. Das war lange, bevor der Ausdruck »alleinerziehend« in Gebrauch kam; damals hieß das »zerrüttete Verhältnisse«,und außer Adrian kannten wir niemanden, der aus solchen kam. Das hätte ihm reichlich Stoff für existenziellen Zorn liefern sollen, aber irgendwie klappte das nicht; er sagte, er liebe seine Mutter und habe Achtung vor seinem Vater. Insgeheim begutachteten wir drei seinen Fall und entwickelten eine Theorie: Der Schlüssel zu einem glücklichen Familienleben bestehe darin, dass es keine Familie gebe – zumindest keine, die zusammenlebe. Nach dieser Analyse beneideten wir Adrian nur noch mehr.
    Damals hatten wir die Vorstellung, wir würden in einer Art Pferch gefangen gehalten, und warteten darauf, ins Leben entlassen zu werden. Und wenn dieser Moment käme, würde unser Leben – und die Zeit selbst – an Fahrt gewinnen. Wie sollten wir auch wissen, dass unser Leben ohnehin begonnen hatte, dass mancher Vorsprung bereits gewonnen, mancher Schaden bereits angerichtet war? Und dass nach der Entlassung nur ein größerer Pferch auf uns wartete, dessen Grenzen zunächst nicht zu erkennen waren?
    Vorerst waren wir bücherhungrig, sexhungrig, leistungsorientiert und anarchistisch. Alle politischen und gesellschaftlichen Systeme erschienen uns korrupt, doch als Alternative ließen wir nichts als hedonistisches Chaos gelten. Adrian aber trieb uns dazu, an die Anwendung des Denkens auf das Leben zu glauben, an die Vorstellung, dass Handeln von Prinzipien geleitet sein sollte. Bis dahin hatte Alex als der Philosoph unter uns gegolten. Er hatte Sachen gelesen, die wir zwei anderen nicht gelesen hatten, und konnte zum Beispiel plötzlich verkünden: »Wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen.« Colin und ich dachten eine Weile stumm über diesen Gedanken nach, dann grinsten wir uns anund redeten weiter. Doch als Adrian kam, vertrieb er Alex von dieser Position – besser gesagt, er bot uns andere Philosophen zur Auswahl. Wenn Alex Russell und Wittgenstein gelesen hatte, so hatte Adrian Camus und Nietzsche gelesen. Ich hatte George Orwell und Aldous Huxley gelesen; Colin hatte Baudelaire und Dostojewski gelesen. Ich übertreibe nur ganz leicht.
    Ja, natürlich waren wir prätentiös – wozu ist die Jugend sonst da? Wir gebrauchten Ausdrücke wie »Weltanschauung« und »Sturm und Drang«, sagten mit Vergnügen »Das ist philosophisch evident« und versicherten uns gegenseitig, Grenzüberschreitung sei die oberste Pflicht der Fantasie. Unsere Eltern sahen das anders, für sie waren ihre Kinder unschuldige Wesen, die plötzlich einem verderblichen Einfluss ausgesetzt waren. So nannte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher