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Vom Ende einer Geschichte

Vom Ende einer Geschichte

Titel: Vom Ende einer Geschichte
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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bisschen Leid geübt, wenn das mit der stillschweigenden, vielleicht gar logischen Verheißung einhergegangen wäre, dass die Liebe nun nicht mehr lange auf sich warten lasse.
    Das war auch so eine Angst, die uns quälte: dass esim Leben anders zugehen könnte als in der Literatur. Unsere Eltern, zum Beispiel – waren die etwa Stoff für die Literatur? Die dürften doch bestenfalls als Beobachter und Zuschauer Verwendung finden, Teil eines gesellschaftlichen Hintergrunds, vor dem sich reale, wirkliche, bedeutsame Dinge abspielen könnten. Zum Beispiel? All das, worum es in der Literatur ging: Liebe, Sex, Moral, Freundschaft, Glück, Leid, Verrat, Ehebruch, Gut und Böse, Helden und Schurken, Schuld und Unschuld, Ehrgeiz, Macht, Gerechtigkeit, Revolution, Krieg, Väter und Söhne, Mütter und Töchter, der Einzelne gegen die Gesellschaft, Erfolg und Versagen, Mord, Selbstmord, Tod, Gott. Und Schleiereulen. Natürlich gab es auch Literatur anderer Art – theoretische, selbstreferenzielle, weinerlich autobiografische –, aber das war alles nur Trockenwichserei. Wahre Literatur handelte von psychologischen, emotionalen und gesellschaftlichen Wahrheiten und stellte sie in den Handlungen und Überlegungen der Protagonisten anschaulich dar; der Roman handelte von der Entwicklung eines Charakters im Laufe der Zeit. Jedenfalls hatte Phil Dixon uns das so beigebracht. Und der einzige Mensch – von Robson abgesehen –, in dessen Leben es bisher etwas annähernd Romanwürdiges gab, war Adrian.
    »Warum hat deine Mama deinen Dad verlassen?«
    »Weiß ich nicht genau.«
    »Hatte deine Mama einen anderen?«
    »War dein Vater ein Hahnrei?«
    »Hatte dein Dad eine Geliebte?«
    »Weiß ich nicht. Sie haben gesagt, ich werde das verstehen, wenn ich älter sei.«
    »Das versprechen sie einem ständig. Erklärt’s mir doch jetzt, sag ich immer.« Allerdings hatte ich das nie sagenmüssen. Und soweit ich wusste, gab es in unserem Haus keine Geheimnisse, zu meiner Beschämung und Enttäuschung.
    »Vielleicht hat deine Mama einen jungen Liebhaber?«
    »Woher soll ich das wissen? Wir treffen uns nie bei ihr. Sie kommt immer nach London.«
    Da war nichts zu machen. In einem Roman hätte Adrian nicht einfach alles so hingenommen, wie es ihm vorgesetzt wurde. Wozu war eine literaturwürdige Situation gut, wenn der Protagonist sich nicht so benahm, wie er es in einem Buch getan hätte? Adrian hätte herumschnüffeln oder sein Taschengeld sparen und einen Privatdetektiv anheuern sollen; vielleicht hätten wir uns alle vier auf die Suche nach der Wahrheit begeben sollen. Oder hätte das nicht nach Literatur, sondern eher nach einem Kinderbuch ausgesehen?
    In der letzten Geschichtsstunde vor den Ferien wollte Old Joe Hunt, der seine lethargischen Schüler durch die Tudors und Stuarts, die Viktorianer und Edwardianer, den Aufstieg des Britischen Empire und dessen anschließenden Niedergang geleitet hatte, dass wir auf all diese Jahrhunderte zurückblickten und uns an Schlussfolgerungen versuchten.
    »Vielleicht beginnen wir mit der scheinbar einfachen Frage: Was ist Geschichte? Fällt Ihnen dazu etwas ein, Webster?«
    »Geschichte ist die Summe der Lügen der Sieger«, antwortete ich etwas zu rasch.
    »Ja, ich habe befürchtet, dass Sie das sagen würden. Nun gut, solange Sie im Auge behalten, dass sie auch die Summe der Selbsttäuschungen der Besiegten ist. Simpson?«

    Colin war besser vorbereitet als ich. »Geschichte ist ein Sandwich mit rohen Zwiebeln, Sir.«
    »Warum das?«
    »Sie stößt einem immer wieder auf, Sir. Sie rülpst. Das haben wir dieses Jahr andauernd gesehen. Immer dieselbe Geschichte, immer dasselbe Schillern zwischen Tyrannei und Rebellion, Krieg und Frieden, Wohlstand und Verarmung.«
    »Muss ja ein ziemlich dickes Sandwich sein, meinen Sie nicht auch?«
    Wir lachten viel länger als nötig, ein Anfall von Schuljahresendhysterie.
    »Finn?«
    »›Geschichte ist die Gewissheit, die dort entsteht, wo die Unvollkommenheiten der Erinnerung auf die Unzulänglichkeiten der Dokumentation treffen‹.«
    »Ach ja? Wo haben Sie das her?«
    »Lagrange, Sir. Patrick Lagrange. Ein Franzose.«
    »Wie der Name schon sagt. Würden Sie uns freundlicherweise ein Beispiel geben?«
    »Robsons Selbstmord, Sir.«
    Das löste ein hörbares Schnappen nach Luft und verwegenes Hälserecken aus. Doch Adrian genoss bei Hunt wie bei allen anderen Lehrern eine Sonderstellung. Wenn wir anderen eine Provokation versuchten, wurde das als kindischer
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