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Vermächtnis

Vermächtnis

Titel: Vermächtnis
Autoren: Jared Diamond
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Warum untersucht man traditionelle Gesellschaften?
    Warum finden wir »traditionelle« Gesellschaften so faszinierend? [2]
    Zum Teil liegt es an einem rein menschlichen Interesse: Es ist faszinierend, Menschen kennenzulernen, die uns so ähnlich und in mancherlei Hinsicht so verständlich erscheinen und uns doch andererseits unähnlich vorkommen und kaum zu verstehen sind. Als ich 1964 mit 26  Jahren zum ersten Mal nach Neuguinea kam, war ich verblüfft darüber, wie exotisch die Bewohner des Landes waren: Sie sehen anders aus als Amerikaner, sprechen andere Sprachen, kleiden sich anders und verhalten sich anders. Als ich aber vielen Teilen Neuguineas und den benachbarten Inseln in den nachfolgenden Jahrzehnten Dutzende von Besuchen abstattete, die zwischen einem und fünf Monaten dauerten, und als ich dabei einzelne Neuguineer kennenlernte, machte der beherrschende Eindruck des Exotischen dem Gefühl von Gemeinsamkeiten Platz: Wir führen lange Gespräche, lachen über die gleichen Witze, haben gemeinsames Interesse an Kindern, Sex, Essen und Sport, und sind gemeinsam wütend, ängstlich, traurig, erleichtert oder überschwänglich. Selbst ihre Sprachen sind Variationen alt vertrauter, weltweit verbreiteter linguistischer Themen: Die erste neuguineische Sprache, die ich lernte (das Fore), ist zwar mit den indoeuropäischen Sprachen nicht verwandt und hat deshalb einen Wortschatz, der mir völlig unbekannt war, aber im Fore werden Verben ebenso raffiniert konjugiert wie im Deutschen, und es hat doppelte Pronomen wie das Slowenische, Postpositionen wie das Finnische und drei Adverbien des Ortes (»hier«, »dort in der Nähe« und »dort weit weg«) wie das Lateinische.
    Alle diese Ähnlichkeiten verleiteten mich nach dem ersten Eindruck der Exotik Neuguineas zu dem irrtümlichen Gedanken, Menschen seien »im Grundsatz überall gleich«. Am Ende wurde mir aber klar, dass wir in einigen grundlegenden Aspekten nicht alle gleich sind: Viele meiner neuguineischen Bekannten zählen anders (nämlich nicht mit abstrakten Zahlen, sondern durch visuelle Kartierung), wählen ihre Ehepartner anders aus, behandeln Eltern und Kinder anders und haben sowohl eine andere Einstellung zu Gefahren als auch einen anderen Begriff von Freundschaft. Diese verwirrende Mischung von Ähnlichkeiten und Unterschieden ist einer der Gründe, warum traditionelle Gesellschaften für Außenstehende so faszinierend sind.
    Darüber hinaus gibt es aber noch einen anderen Grund, warum traditionelle Gesellschaften interessant und wichtig sind: In ihnen finden wir noch Hinweise darauf, wie alle unsere Vorfahren über Zehntausende von Jahren hinweg und praktisch bis gestern gelebt haben. Die traditionelle Lebensweise hat uns geprägt und dafür gesorgt, dass wir heute so und nicht anders sind. Der Übergang vom Jagen und Sammeln zur Landwirtschaft begann erst vor ungefähr 11 000  Jahren; die ersten Metallwerkzeuge wurden vor 7000  Jahren hergestellt; und die ersten Staatsregierungen sowie die erste Schrift entstanden vor nicht mehr als 5400  Jahren. »Moderne« Verhältnisse herrschten nur während eines winzigen Bruchteils der Menschheitsgeschichte, und auch das nur lokal; alle menschlichen Gesellschaften waren weitaus länger traditionell, als unsere heutige Gesellschaft modern ist. Für die Leser dieses Buches ist es selbstverständlich, im Laden landwirtschaftlich erzeugte Lebensmittel zu kaufen, statt jeden Tag in freier Wildbahn zu jagen und zu sammeln; wir verwenden Metallwerkzeuge statt solchen aus Stein, Holz und Knochen, haben Staatsregierungen einschließlich der damit verbundenen Justiz, Polizei und Armee, und wir können lesen und schreiben. Aber alle diese scheinbaren Notwendigkeiten sind relativ neu, und Milliarden Menschen auf der ganzen Welt leben auch heute noch teilweise auf traditionelle Weise.
    Selbst in die moderne Industriegesellschaft sind Bereiche eingebettet, in denen nach wie vor traditionelle Mechanismen am Werk sind. In vielen ländlichen Gebieten der Ersten Welt, beispielsweise in dem Tal in Montana, wo ich jedes Jahr mit meiner Frau und meinen Kindern die Sommerferien verbringe, zieht man bei Meinungsverschiedenheiten auch heute noch vielfach nicht vor Gericht, sondern man legt sie mit traditionellen, informellen Mechanismen bei. Jugendbanden in großen Städten rufen nicht die Polizei, wenn sie Konflikte austragen wollen, sondern sie bedienen sich der traditionellen Methoden der Verhandlung, Gegenleistung,
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