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Vermächtnis

Vermächtnis

Titel: Vermächtnis
Autoren: Jared Diamond
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Weiden oder Fischgründe befinden. Die Viehzüchter in Zentralasien und einige andere Stammesvölker praktizieren jedoch die Transhumanz, das heißt, sie treiben ihr Vieh in Abhängigkeit von der Jahreszeit zwischen verschiedenen Höhenlagen hin und her, um damit im Jahreslauf das Graswachstum in größeren Höhen auszunutzen.
    In anderer Hinsicht ähneln die Stämme noch großen Horden; das gilt beispielsweise für ihre relativ egalitäre Stellung, schwache wirtschaftliche Spezialisierung, schwache politische Führung, das Fehlen von Bürokraten und die Entscheidungsfindung im persönlichen Gespräch. Ich habe in Dörfern in Neuguinea bei Versammlungen zugesehen, in denen Hunderte von Menschen auf dem Boden saßen, ihre Meinung sagten und schließlich zu einem Beschluss gelangten. In manchen Stämmen gibt es einen »großen Mann«, der als eine Art schwache Führungsgestalt fungiert, aber seine Funktion stützt sich nicht auf eine anerkannte Autorität, sondern nur auf Persönlichkeit und Überzeugungskraft. Ein Beispiel für die Grenzen der Macht eines »großen Mannes« werden wir in Kapitel  3 kennenlernen: Den angeblichen Anhängern eines Führers namens Gutelu vom neuguineischen Stamm der Dani gelang es, Gutelus Willen zu übergehen und einen an Völkermord grenzenden Angriff zu unternehmen, durch den Gutelus politisches Bündnis gespalten wurde. Archäologische Anhaltspunkte für die Stammesorganisation, beispielsweise die Überreste nennenswerter Wohngebäude und Siedlungen, legen die Vermutung nahe, dass Stämme sich in manchen Regionen bereits vor mindestens 13 000  Jahren entwickelten. In jüngerer Zeit waren sie in Teilen Neuguineas und im Amazonasgebiet immer noch weit verbreitet. Zu den Stammesgesellschaften, die ich in diesem Buch erörtern werde, gehören die Iñupiat in Alaska, die südamerikanischen Yanomamo-Indianer, die Kirgisen in Afghanistan, die Kaulong in Neubritannien sowie die Dani, Daribi und Fore in Neuguinea.
    Nach den Stämmen folgt als nächstkompliziertere Organisationsform das Häuptlingstum oder Stammesfürstentum mit Tausenden oder Zehntausenden von Untertanen. Eine so große Bevölkerung und die beginnende wirtschaftliche Spezialisierung erfordern eine hohe Lebensmittelproduktion und die Fähigkeit, Nahrungsüberschüsse zu erzeugen und aufzubewahren; nur so können die Spezialisten, die selbst keine Nahrungsmittel produzieren, darunter auch die Häuptlinge sowie ihre Verwandten und Bürokraten, ernährt werden. Deshalb bauten Häuptlingstümer dauerhafte Dörfer und Siedlungen mit Lagereinrichtungen, und sie waren vorwiegend nahrungsproduzierende Gesellschaften (das heißt Bauern und Viehzüchter); Ausnahmen gab es nur in den produktivsten Regionen, die Jägern und Sammlern zur Verfügung standen, so im Calusa-Häuptlingstum in Florida und in den Häuptlingstümern der Chumash an der südkalifornischen Küste.
    In einer Gesellschaft von mehreren tausend Menschen ist es unmöglich, dass jeder jeden kennt oder dass persönliche Diskussionen unter Beteiligung aller stattfinden. Deshalb stehen Häuptlingstümer vor zwei neuen Problemen, die sich für Horden oder Stämme nicht stellen. Erstens müssen Fremde in einem Häuptlingstum die Möglichkeit haben, einander zu treffen, sich gegenseitig als Mitglieder desselben Häuptlingstums zu erkennen, obwohl sie sich unbekannt sind, um Empfindlichkeiten wegen territorialer Übergriffe sowie die damit verbundenen Konflikte zu vermeiden. Aus diesen Gründen entwickeln Häuptlingstümer eine gemeinsame Ideologie sowie eine politische und religiöse Identität, die sich häufig aus der angeblich göttlichen Stellung des Häuptlings ableitet. Und zweitens gibt es nun eine anerkannte Führungsgestalt, den Häuptling, der Entscheidungen trifft, eine allseits akzeptierte Autorität besitzt, für sich im Bedarfsfall das Monopol der Gewaltausübung gegenüber den Mitgliedern seiner Gesellschaft beansprucht und so dafür sorgt, dass Fremde innerhalb desselben Häuptlingstums nicht gegeneinander kämpfen. Unterstützt wird der Häuptling durch nichtspezialisierte Allzweck-Vertreter (eine Vorstufe der Bürokraten), die Tribut eintreiben, Meinungsverschiedenheiten schlichten und andere administrative Aufgaben erfüllen; im Gegensatz zu einem Staat gibt es aber noch keine getrennten Finanzbeamten, Richter und Gewerbeaufseher. (Hier kann es zur Verwirrung kommen: Manche traditionellen Gesellschaften haben Häuptlinge und wurden in der wissenschaftlichen
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