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Vermächtnis

Vermächtnis

Titel: Vermächtnis
Autoren: Jared Diamond
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Fremden zu sein, ergibt sich in winzigen Gesellschaften, in denen jeder jeden kennt, nicht.
    Und schließlich ist es in einer Gesellschaft von mehr als 10 000 Menschen nicht möglich, Entscheidungen zu fällen, auszuführen und durchzusetzen, indem alle Bürger sich zu einer persönlichen Diskussion zusammensetzen und ihre Meinung sagen. Eine große Bevölkerung funktioniert nicht ohne Führungspersonen, die Entscheidungen treffen, und ebenso braucht sie ausführende Organe, welche die Entscheidungen umsetzen, und Bürokraten, die Entscheidungen und Gesetze verwalten. Pech für alle Leser, die Anarchisten sind und von einem Leben ohne Staatsregierung träumen: Das sind die Gründe, warum ihr Traum unrealistisch ist. Sie müssten einen winzigen Clan oder Stamm finden, der sie aufnimmt, denn nur dort ist niemand ein Fremder, und Könige, Präsidenten oder Bürokraten werden nicht gebraucht.
    Wie wir in Kürze genauer erfahren werden, war die Bevölkerung auch in manchen traditionellen Gesellschaften so groß, dass Allzweck-Bürokraten gebraucht wurden. Staaten sind aber noch bevölkerungsreicher und benötigen einen spezialisierten, vertikal und horizontal differenzierten Beamtenapparat. Wir Staatsbürger finden alle diese Bürokraten meist entsetzlich, aber noch einmal: Leider sind sie notwendig. Ein Staat hat so viele Gesetze und Bürger, dass Bürokraten eines einzigen Typs nicht alle Gesetze des Königs anwenden können: Es muss eine Trennung zwischen Finanzbeamten, Auto-Sicherheitsprüfern, Polizisten, Richtern, Inspektoren für die Sauberkeit in Restaurants und so weiter geben. Und auch innerhalb einer Behörde, in der nur eine solche Gruppe von Beamten tätig ist, sind wir daran gewöhnt, dass es viele Beamte gibt, zwischen denen eine hierarchische Ordnung mit mehreren Ebenen besteht: Im Finanzamt gibt es den Sachbearbeiter, der die eigentliche Steuererklärung bearbeitet; bei seinem Vorgesetzten können wir uns beschweren, wenn wir mit dem Steuerbescheid des Sachbearbeiters nicht einverstanden sind, und dieser Vorgesetzte ist seinerseits unter einem Amtsleiter tätig, der einem Kreis- oder Landesbeamten unterstellt ist, der dem Finanzminister des gesamten Staates unterstellt ist. (In Wirklichkeit ist die Sache noch komplizierter: Aus Gründen der Übersichtlichkeit habe ich mehrere weitere Hierarchieebenen weggelassen.) Eine imaginäre Bürokratie dieses Typs beschreibt Franz Kafka in seinem Roman
Das Schloss
; die Anregung dazu bezog er aus der tatsächlichen Bürokratie des Habsburgerreiches, dessen Bürger er war. Wenn ich Kafkas Bericht über die Frustrationen, die sein Protagonist im Umgang mit der imaginären Bürokratie des Schlosses erlebt, vor dem Zubettgehen lese, sind Albträume in der folgenden Nacht garantiert, aber auch jeder Leser hat sicher im Umgang mit der realen Bürokratie bereits seine eigenen Albträume und Frustrationen erlebt. Es ist der Preis, den wir für das Leben unter einer staatlichen Regierung bezahlen: Kein Utopist hat jemals herausgefunden, wie man einen Staat verwalten kann, ohne dass es zumindest einige Bürokraten gibt.
    Und schließlich bleibt noch ein nur allzu vertrautes Merkmal der Staaten: Selbst in den skandinavischen Demokratien mit ihrer großen Gleichberechtigung sind die Bürger politisch, wirtschaftlich und sozial nicht gleich. In jedem Staat gibt es zwangsläufig einige Führungsgestalten, die Anordnungen erteilen und Gesetze machen, und viele gewöhnliche Bürger, die den Anordnungen gehorchen und die Gesetze befolgen. Staatsbürger haben unterschiedliche wirtschaftliche Positionen (als Bauern, Hausmeister, Anwälte, Politiker, Verkäufer usw.) inne, und manche dieser Positionen bringen höhere Gehälter ein als andere. Manche Bürger erfreuen sich eines höheren gesellschaftlichen Status als andere. Alle idealistischen Bemühungen, die Ungleichheit in den Staaten so gering wie möglich zu halten – zum Beispiel Karl Marx’ Formulierung des kommunistischen Ideals »jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen« –, sind gescheitert.
    Staaten konnte es nicht geben, solange es keine Lebensmittelproduktion gab (die ungefähr 9000  v.Chr. begann), und auch danach konnten Staaten erst dann existieren, als die Lebensmittelproduktion über Jahrtausende hinweg funktionierte und die Entwicklung einer Bevölkerungsdichte ermöglichte, die eine Staatsregierung erforderte. Der erste Staat entstand um 3400  v.Chr. im Fruchtbaren Halbmond, andere
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