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Vermächtnis

Vermächtnis

Titel: Vermächtnis
Autoren: Jared Diamond
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Kinder großziehen, ältere Menschen behandeln, gesund bleiben, sich unterhalten, ihre Freizeit verbringen und Konflikte beilegen – mir und sicher auch vielen Lesern im Vergleich zu den normalen Vorgehensweisen in der Ersten Welt überlegen zu sein. Vielleicht können wir davon profitieren, wenn wir gezielt einige dieser traditionellen Verfahren übernehmen. Manche von uns tun das bereits, und dies ist nachgewiesenermaßen nützlich für Gesundheit und Glück. In mancherlei Hinsicht sind wir modernen Menschen eigentlich Sonderlinge; unser Körper und unsere Handlungsweisen haben es heute mit Bedingungen zu tun, die ganz anders sind als jene, unter denen ihre Evolution stattgefunden hat und an die sie sich angepasst haben.
    Wir sollten aber auch nicht in das andere Extrem verfallen, die Vergangenheit romantisch zu verklären und uns nach einfacheren Zeiten zu sehnen. Viele traditionelle Praktiken sind so, dass wir uns glücklich schätzen können, sie aufgegeben zu haben – dazu gehören Säuglingsmord, die Aussetzung oder Tötung älterer Menschen, immer wiederkehrende Hungersgefahr, ein erhöhtes Risiko für Umweltgefahren und Infektionskrankheiten, aber auch die Aussicht, die eigenen Kinder sterben zu sehen und in ständiger Angst vor Angriffen zu leben. Traditionelle Gesellschaften legen nicht nur einige bessere Aspekte der Lebensweise nahe, sondern sie können uns auch helfen, manche Vorteile unserer eigenen Gesellschaft schätzen zu lernen, die wir für selbstverständlich halten.

Staaten
    Traditionelle Gesellschaften sind in ihrer Organisation vielgestaltiger als Gesellschaften mit Staatsregierungen. Um jene Merkmale traditioneller Gesellschaften zu verstehen, die uns weniger vertraut sind, wollen wir uns zunächst einmal an die allgemein bekannten Eigenschaften der Nationalstaaten erinnern, in denen wir heute leben.
    Die meisten modernen Staaten haben eine Bevölkerung von Hunderten, Tausenden oder Millionen von Menschen; das Spektrum reicht bis zu jeweils über eine Milliarde Menschen in Indien und China, den beiden bevölkerungsreichsten Staaten unserer Zeit. Selbst die kleinsten modernen Einzelstaaten, die Inselstaaten Nauru und Tuvalu im Pazifik, haben jeweils über 10 000 Einwohner. (Der Vatikan mit seiner Bevölkerung von nur 1000 Menschen gilt ebenfalls als Staat, stellt aber eine Ausnahme dar: Er ist eine winzige Enklave in der Großstadt Rom, aus der er alles Notwendige bezieht.) Auch früher hatten Staaten eine Bevölkerung im Bereich von einigen zehntausend bis einigen Millionen Menschen. Schon aus dieser großen Bevölkerungszahl können wir ablesen, wie Staaten sich ernähren müssen, welche Organisationsformen sie brauchen und warum sie überhaupt existieren. Alle Staaten ernähren ihre Bürger nicht durch Jagen und Sammeln, sondern durch Lebensmittelproduktion (Landwirtschaft und Viehzucht). Wenn man auf Garten-, Acker- oder Weideland von einigen hundert Quadratmetern Nutzpflanzen anbaut oder Vieh hält und sie auf diese Weise mit den Pflanzen- und Tierarten besetzt, die für uns am nützlichsten sind, kann man weitaus mehr Lebensmittel ernten als wenn man wilde Tiere jagt oder die Pflanzenarten (die meisten davon ungenießbar) sammelt, die zufällig auf einigen hundert Quadratmetern Waldland gedeihen. Allein aus diesem Grund konnte keine Gesellschaft von Jägern und Sammlern jemals eine so dichte Bevölkerung ernähren, dass daraus eine Staatsregierung hervorgehen konnte. In jedem Staat erzeugt nur ein gewisser Anteil der Bevölkerung – in modernen Gesellschaften mit stark mechanisierter Landwirtschaft oftmals nur zwei Prozent – die Nahrung. Die übrigen Bewohner sind mit anderen Dingen beschäftigt, beispielsweise mit Verwaltung, Produktion oder Handel; sie erzeugen ihre Lebensmittel nicht selbst, sondern leben von den Überschüssen, die von den Bauern produziert werden.
    Wegen der großen Bevölkerung ist auch gewährleistet, dass die meisten Menschen innerhalb eines Staates sich gegenseitig nicht kennen: Selbst ein Bürger des winzigen Tuvalu kann nicht mit allen seinen 10 000 Mitbürgern bekannt sein, und bei den 1 , 4 Milliarden chinesischen Bürgern wäre diese Herausforderung noch weniger zu bewältigen. Deshalb brauchen Staaten ihre Polizei, Gesetze und Moralvorschriften, die dafür sorgen, dass die ständigen, unvermeidlichen Begegnungen zwischen Fremden nicht immer wieder in Konflikte ausarten. Dieser Bedarf für Polizei, Gesetze und das moralische Gebot, freundlich zu
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