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Vermächtnis

Vermächtnis

Titel: Vermächtnis
Autoren: Jared Diamond
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Einschüchterung und Kriegsführung. Einige meiner Bekannten aus Europa, die in den 1950 er Jahren in kleinen europäischen Dörfern aufwuchsen, beschreiben eine ganz ähnliche Kindheit wie in einem traditionellen Dorf in Neuguinea: Jeder kannte im Dorf jeden, jeder wusste, was jeder andere tat, und äußerte seine Meinung darüber, die Menschen heirateten Partner, die nur wenige Kilometer entfernt geboren waren, und sie verbrachten mit Ausnahme der jungen Männer, die während der Weltkriegsjahre abwesend waren, ihr ganzes Leben im Dorf oder in seiner Nähe; Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Dorfes mussten so beigelegt werden, dass Beziehungen wieder hergestellt oder erträglich gemacht wurden, denn man musste für sein ganzes weiteres Leben in der Nähe der betreffenden Person wohnen. Mit anderen Worten: Die Welt von gestern wurde nicht ausgelöscht und durch die neue, moderne Welt ersetzt, sondern vieles von gestern ist uns bis heute erhalten geblieben. Das ist ein weiterer Grund, warum wir die Welt von gestern verstehen wollen.
    Wie wir in den Kapiteln des vorliegenden Buches noch genauer erfahren werden, sind traditionelle Gesellschaften in vielen ihrer kulturellen Gebräuche weitaus vielgestaltiger als moderne Industriegesellschaften. Im Spektrum dieser Vielfalt haben sich zahlreiche kulturelle Normen für moderne Staatsgesellschaften weit von den traditionellen Normen entfernt und liegen an den äußersten Enden der hergebrachten Bandbreite. So behandeln beispielsweise manche traditionellen Gesellschaften ältere Menschen im Vergleich zu jeder modernen Industriegesellschaft viel grausamer, während andere ihren Alten ein weitaus befriedigenderes Leben ermöglichen; die modernen Industriegesellschaften stehen aber dem ersten Extrem näher als dem zweiten. Dennoch stützen Psychologen sich mit ihren allgemeinen Aussagen über das Wesen des Menschen meist auf Untersuchungen in unserem eigenen schmalen, atypischen Teil der menschlichen Vielfalt. Unter den Versuchspersonen, die in einer Stichprobe von Fachartikeln aus den führenden psychologischen Fachzeitschriften im Jahr 2008 untersucht wurden, stammten 96  Prozent aus westlichen Industriestaaten (Nordamerika, Europa, Australien, Neuseeland und Israel); insbesondere kamen 68  Prozent aus den Vereinigten Staaten, und bis zu 80  Prozent waren College-Studienanfänger, die sich für psychologische Studiengänge eingeschrieben hatten, das heißt, sie waren nicht einmal für die Gesellschaft ihrer eigenen Staaten typisch. Die Sozialwissenschaftler Joseph Henrich, Steven Heine und Ara Norenzayan drücken es so aus: Unsere Kenntnisse über die Psychologie des Menschen wurden zum größten Teil an Versuchspersonen gewonnen, die man mit der Abkürzung WEIRD (white, educated, industrialized, rich), was im Englischen »sonderbar« bedeutet, beschreiben kann: Menschen aus westlichen, gebildeten, industrialisierten, reichen, demokratischen Gesellschaften. Die meisten Versuchspersonen sind anscheinend auch nach den Maßstäben der weltweiten kulturellen Bandbreite buchstäblich sonderbar – in vielen Untersuchungen an kulturellen Phänomenen, in denen die weltweite Vielfalt umfassender eingefangen wurde, erweisen sie sich als Exoten. Zu diesen untersuchten Phänomenen gehören visuelle Wahrnehmung, Fairness, Kooperation, Bestrafung, biologisches Denken, räumliche Orientierung, analytisches und ganzheitliches Denken, moralische Überlegungen, Motivation zur Anpassung, Entscheidungsfindung und der Begriff des Ich. Wenn wir also allgemeine Aussagen über das Wesen des Menschen machen wollen, müssen wir unsere untersuchte Stichprobe von den üblichen WEIRD -Versuchspersonen (vorwiegend amerikanische Studienanfänger in Psychologie) auf das gesamte Spektrum der traditionellen Gesellschaften erweitern.
    Sozialwissenschaftler können also aus Studien an traditionellen Gesellschaften mit Sicherheit Schlussfolgerungen von akademischem Interesse ziehen, wir anderen sollten aber auch praktische Dinge lernen können. Traditionelle Gesellschaften stellen eigentlich Tausende von natürlichen Experimenten zum Aufbau einer Gesellschaft dar. Sie haben Tausende von Lösungen für die Probleme der Menschen gefunden, und diese Lösungen sind anders als jene, die unsere modernen WEIRD -Gesellschaften sich zu eigen gemacht haben. Wie wir noch genauer erfahren werden, scheinen manche dieser Lösungen – beispielsweise manche Methoden, nach denen traditionelle Gesellschaften ihre
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