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Vom Ende einer Geschichte

Vom Ende einer Geschichte

Titel: Vom Ende einer Geschichte
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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Zynismus abgetan – wieder etwas, das sich bald auswachsen würde. Adrians Provokationen dagegen wurden als unbeholfene Suche nach der Wahrheit aufgenommen.
    »Was hat der mit unserem Thema zu tun?«
    »Er ist ein historisches Ereignis, Sir, wenn auch ein kleineres. Aber aus der jüngsten Vergangenheit. Demnach sollte es leicht als historisch zu begreifen sein.Wir wissen, dass Robson tot ist, wir wissen, dass er eine Freundin hatte, wir wissen, dass sie schwanger ist – oder war. Was haben wir sonst noch? Ein einziges Dokument, einen Abschiedsbrief, in dem steht »Tut mir leid, Mama« – jedenfalls Brown zufolge. Gibt es diesen Brief noch? Wurde er vernichtet? Hatte Robson noch andere Motive oder Gründe außer den offensichtlichen? Wie war seine geistige Verfassung? Können wir sicher sein, dass das Kind von ihm ist? Wir wissen es nicht, Sir, nicht einmal so kurz danach. Wie könnte dann jemand in fünfzig Jahren Robsons Geschichte schreiben, wenn seine Eltern tot sind und seine Freundin verschwunden ist und sowieso keine Lust hat, sich an ihn zu erinnern? Sie verstehen das Problem, Sir?«
    Wir alle sahen Hunt an und fragten uns, ob Adrian diesmal zu weit gegangen war. Allein schon das Wort »schwanger« schien in der Luft zu schweben wie Kreidestaub. Dazu noch der kühne Verweis auf eine alternative Vaterschaft, auf Robson als Schuljungen-Hahnrei … Nach einer Weile antwortete der Lehrer.
    »Ich verstehe das Problem, Finn. Aber ich glaube, Sie unterschätzen die Geschichtsschreibung. Und die Geschichtsschreiber. Nehmen wir einmal an, der arme Robson wäre tatsächlich von historischem Interesse. Die Historiker mussten sich seit jeher mit dem Fehlen direkter Beweise herumschlagen. Sie sind daran gewöhnt. Und vergessen Sie nicht, dass es im vorliegenden Fall eine rechtsmedizinische Untersuchung und somit einen Obduktionsbericht gegeben hätte. Robson kann durchaus ein Tagebuch geführt oder Briefe geschrieben und Telefonate geführt haben, deren Inhalt in Erinnerung geblieben ist. Seine Eltern hätten Kondolenzbriefe erhalten und darauf geantwortet. Und bei der gegenwärtigen Lebenserwartung stünden in fünfzig Jahren noch recht viele seiner Schulkameraden für eine Befragung zur Verfügung. Vielleicht ist das Problem nicht so gravierend, wie Sie denken.«
    »Aber nichts kann eine eigene Aussage von Robson ersetzen, Sir.«
    »Einerseits nein. Doch andererseits müssen Historiker die Erklärung von Ereignissen durch einen direkt Beteiligten mit einer gewissen Skepsis betrachten. Häufig verdient eine Aussage, die im Hinblick auf die Zukunft gemacht wurde, das größte Misstrauen.«
    »Wenn Sie meinen, Sir.«
    »Und Handlungen lassen oft einen Rückschluss auf den Geisteszustand zu. Ein Tyrann verschickt selten eine handschriftliche Anweisung zur Ausrottung des Feindes.«
    »Wenn Sie meinen, Sir.«
    »Nun, das meine ich.«
    Haben sie das genau so gesagt? Höchstwahrscheinlich nicht. Dennoch ist dies meine genaueste Erinnerung an das, was gesagt wurde.
    Wir schlossen die Schule ab, versprachen uns lebenslange Freundschaft, und dann trennten sich unsere Wege. Adrian bekam ein Stipendium für Cambridge, was niemanden überraschte. Ich studierte in Bristol Geschichte; Colin ging nach Sussex und Alex trat in die Firma seines Vaters ein. Wir schrieben einander Briefe, wie es zu jener Zeit – selbst bei jungen Leuten – üblich war. Doch wir hatten nicht viel Erfahrung mit diesem Brauch, so dass dem Drang nach Mitteilung eines Inhalts oft ein schelmisches Bemühen um die Form vorausging. Einen Brief mit den Worten »Im Besitz Deines werten Schreibensvom 17. des Monats« zu beginnen, erschien eine Zeit lang recht geistreich.
    Wir hatten geschworen, uns jedes Mal zu treffen, wenn wir drei Studenten für die Ferien nach Hause kämen; das klappte aber nicht immer. Und offenbar hatte das Briefeschreiben die Dynamik unserer Beziehung verändert. Die ursprünglichen drei schrieben einander nicht so oft und so eifrig, wie wir an Adrian schrieben. Wir suchten seine Aufmerksamkeit, seinen Beifall; wir umwarben ihn und erzählten ihm unsere schönsten Geschichten zuerst; jeder von uns hielt sich für seinen besten Freund und meinte, dieses Privileg stehe ihm auch zu. Und obwohl wir selbst neue Freunde fanden, waren wir irgendwie überzeugt, dass das bei Adrian anders war: dass wir drei immer noch seine engsten Vertrauten wären, dass er auf uns angewiesen wäre. Ob das nur verschleiern sollte, dass wir auf ihn angewiesen
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