Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vom Ende einer Geschichte

Vom Ende einer Geschichte

Titel: Vom Ende einer Geschichte
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
Vom Netzwerk:
waren?
    Und dann übernahm das Leben das Regiment, und die Zeit verging schneller. Mit anderen Worten, ich fand eine Freundin. Natürlich hatte ich schon vorher ein paar Mädchen kennengelernt, aber entweder verunsicherten sie mich durch ihr selbstbewusstes Auftreten, oder ihre Nervosität machte meine noch schlimmer. Anscheinend gab es einen männlichen Geheimcode, der von gesellschaftlich gewandten Zwanzigjährigen an bebende Achtzehnjährige weitergegeben wurde und mit dessen Hilfe man, wenn man ihn einmal beherrschte, Mädchen »aufgabeln« und, unter gewissen Bedingungen, »aufreißen« konnte. Ich habe diesen Code aber nie gelernt oder begriffen, womöglich bis heute nicht. Meine »Methode« bestand darin, keine Methode zu haben; andere hielten das, zweifellos zu Recht, für Unfähigkeit. Selbst der vermeintlich leichte Weg von Magst-du-was-trinken-wollen-wir-tanzen-darf-ich-dich-nach-Hause-bringen-wie-wär’s-mit-einem-Kaffee? setzte einen Schneid voraus, den ich nicht aufbrachte. Ich hing einfach herum, versuchte, interessante Bemerkungen zu machen, und war ständig darauf gefasst, alles zu vermasseln. Ich erinnere mich, dass ich in meinem ersten Semester auf einer Party in alkoholbedingte Traurigkeit verfiel, und als ein Mädchen vorbeikam und mitfühlend fragte, ob alles in Ordnung sei, antwortete ich zu meinem eigenen Erstaunen: »Ich glaube, ich bin manisch-depressiv«, weil sich das seinerzeit charaktervoller anhörte als »Ich bin ein bisschen traurig«. Als sie antwortete: »Nicht schon wieder so einer«, und sich eilends entfernte, wurde mir klar, dass mein Versuch, mich von der fröhlichen Menge abzuheben, gründlich danebengegangen war und es auf der ganzen Welt keinen dämlicheren Spruch gab, wenn man ein Mädchen aufgabeln wollte.
    Meine Freundin hieß Veronica Mary Elizabeth Ford, und es dauerte zwei Monate, bis ich ihr diese Informationen (ich meine ihren zweiten und dritten Vornamen) entlockt hatte. Sie studierte Spanisch, sie liebte Gedichte, und ihr Vater war im Staatsdienst. Knapp 1,60 groß mit runden, muskulösen Waden, mittelbraunen schulterlangen Haaren, blaugrauen Augen hinter einer blau geränderten Brille und einem raschen, aber zurückhaltenden Lächeln. Ich fand sie nett. Nun ja, wahrscheinlich hätte ich jedes Mädchen nett gefunden, das nicht vor mir zurückschreckte. Ich versuchte ihr nicht zu erzählen, dass ich traurig sei, weil ich es nicht war. Sie besaß einen Plattenspieler von Black Box gegenüber meinem schäbigen Dansette, und sie hatte den besseren Musikgeschmack: das heißt, sie verachtete Dvořák und Tschaikowski, die ich innig liebte, und besaß LP s mit Chorälen undLiedern. Sie durchstöberte meine Schallplattensammlung mit gelegentlich aufflackerndem Lächeln und häufigerem Stirnrunzeln. Es half auch nichts, dass ich die Ouvertüre 1812 sowie die Filmmusik zu Ein Mann und eine Frau versteckt hatte. Es gab genügend dubioses Material, noch ehe sie an meine umfangreiche Abteilung mit Popmusik kam: Elvis, die Beatles, die Stones (gegen die bestimmt niemand etwas einwenden konnte), aber auch die Hollies, die Animals, die Moody Blues und ein Doppelalbum von Donovan mit dem (kleingeschriebenen) Titel a gift from a flower to a garden.
    »So was gefällt dir?«, fragte sie in neutralem Ton.
    »Gut zum Tanzen«, antwortete ich etwas abwehrend.
    »Tanzt du dazu? Hier? In deinem Zimmer? Allein?«
    »Nein, eigentlich nicht.« Obwohl ich das natürlich doch tat.
    »Ich tanze nie«, sagte sie, teils wie eine Anthropologin, teils wie zur Festlegung der Regeln für jegliche Beziehung, die wir haben könnten, falls wir miteinander gehen sollten.
    Ich sollte wohl erklären, was der Ausdruck »miteinander gehen« damals bedeutete, denn das hat sich im Laufe der Zeit geändert. Vor Kurzem sprach ich mit einer Freundin, deren Tochter ganz bedrückt zu ihr gekommen war. Sie war im zweiten Semester an der Universität und hatte mit einem Jungen geschlafen, der – ganz offen und mit ihrem Wissen – zur selben Zeit mit verschiedenen anderen Mädchen geschlafen hatte. Das diente dazu, sie alle sozusagen »vortanzen« zu lassen, bevor er sich entschied, mit welcher er »gehen« wollte. Die Tochter war aufgebracht, weniger wegen dieses Systems – auch wenn sie das Ungerechte daran halbwegs durchschaute –, sondern weil die Wahl letztendlich nicht auf sie gefallen war.

    Da kam ich mir vor wie ein Überbleibsel aus einer uralten, längst vergangenen Kultur, in der man noch geschnitzte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher