Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vom Ende einer Geschichte

Vom Ende einer Geschichte

Titel: Vom Ende einer Geschichte
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
Vom Netzwerk:
Einbrecher erscheinen. Am Bahnhof stellte Veronica mich ihrem Vater vor, der den Kofferraum seines Wagens öffnete, mir den Koffer abnahm und lachte.
    »Sieht aus, als wollten Sie bei uns einziehen, junger Mann.«
    Er war groß, korpulent und hatte ein rotes Gesicht; er kam mir vierschrötig vor. Roch ich da eine Bierfahne? Um diese Tageszeit? Wie konnte dieser Mann eine derart elfengleiche Tochter gezeugt haben?
    Er chauffierte seinen Humber Super Snipe mit seufzender Ungeduld über die Dämlichkeit anderer. Ich saß allein auf dem Rücksitz. Ab und zu wies Mr Ford, vermutlich mir zuliebe, auf etwas hin, und ich wusste nicht, ob ich darauf antworten sollte. »Michaeliskirche, Backstein und Flint, hat durch viktorianische Restauratoren viel gewonnen.« » Voilà – unser ureigenstes Café Royal!« »Beachten Sie das elegante Spirituosengeschäft mit historischem Fachwerk dort rechts.« Ich schaute hilfesuchend Veronicas Profil an, aber mir wurde keine Hilfe zuteil.
    Sie wohnten in einem frei stehenden roten Backsteinhaus, das mit Keramikplatten verkleidet war und eine kiesbestreute Einfahrt hatte. Mr Ford machte die Tür auf und rief ins Haus: »Der Junge will einen ganzen Monat bleiben.«
    Ich bemerkte den starken Glanz auf den dunklen Möbeln und den starken Glanz auf den Blättern einer extravaganten Topfpflanze. Veronicas Vater packte meinen Koffer, als gehorche er den fernen Gesetzen der Gastfreundschaft, trug ihn, das Gewicht ins Lächerliche übertreibend, in ein Zimmer unter dem Dach und warf ihn aufs Bett. Er deutete auf ein kleines Waschbecken.
    »Da können Sie nachts reinpinkeln, wenn Sie wollen.«
    Ich antwortete mit einem Nicken. Ich wusste nicht recht, ob das männliche Kumpelhaftigkeit war oder ob er mich behandelte wie den Abschaum der niederen Klassen.
    Veronicas Bruder Jack war leichter einzuordnen: so ein typischer gesunder, sportlicher junger Mann, der über fast alles lachen konnte und gern seine jüngere Schwester neckte. Mir gegenüber benahm er sich, als sei ich ein Objekt leichter Neugier und keinesfalls der Erste, der ihm zur Beurteilung vorgeführt wurde. Veronicas Mutter ignorierte das ganze Theater um sie herum, erkundigte sich nach meinem Studium und verschwand immer wieder in der Küche. Wahrscheinlich war sie Anfang vierzig, aber in meinen Augen war sie natürlich schon richtig alt und ihr Mann auch. Sie sah Veronica nicht besonders ähnlich: ein breiteres Gesicht, die Haare mit einem Band von der hohen Stirn zurückgehalten, einbisschen mehr als mittelgroß. Sie hatte etwas Künstlerisches an sich, auch wenn ich jetzt nicht mehr genau sagen könnte, woran sich das zeigte – bunte Halstücher, Zerstreutheit, das Summen von Opernarien oder alles zusammen.
    Mir war so unbehaglich zumute, dass ich das ganze Wochenende über an Verstopfung litt: Das ist meine wichtigste faktische Erinnerung. Alles andere sind Eindrücke und halbe Erinnerungen und daher vielleicht bloßer Selbstschutz: Zum Beispiel, dass Veronica sich anfangs, obwohl sie mich doch eingeladen hatte, in ihre Familie zurückzuziehen und mich gleichfalls zu begutachten schien – allerdings kann ich jetzt nicht mehr entscheiden, ob das Ursache oder Wirkung meiner Unsicherheit war. An jenem Freitag wurde ich beim Essen ausgehorcht, was ich gesellschaftlich und intellektuell vorzuweisen hatte; ich kam mir vor, als säße ich vor einem Untersuchungsausschuss. Danach schauten wir uns im Fernsehen die Nachrichten an und diskutierten schwerfällig über die Weltpolitik, bis es Zeit war, ins Bett zu gehen. In einem Roman hätte es wohl ein Huschen von einem Stockwerk zum anderen und heftiges Geknutsche gegeben, nachdem der Paterfamilias zur Nacht abgeschlossen hatte. Nicht so hier; an diesem ersten Abend gab Veronica mir nicht mal einen Gutenachtkuss oder tat so, als müsse sie nach den Handtüchern sehen und sich vergewissern, ob ich auch alles hatte, was ich brauchte. Vielleicht hatte sie Angst vor den Spötteleien ihres Bruders. Also zog ich mich aus, wusch mich, pinkelte aggressiv in das Waschbecken, schlüpfte in meinen Pyjama und lag dann lange wach.
    Als ich zum Frühstück herunterkam, war nur Mrs Ford da. Die anderen waren spazieren gegangen, nachdem Veronica allen versichert hatte, ich würde bestimmt ausschlafen wollen. Wahrscheinlich habe ich meine Reaktion auf diese Mitteilung nicht sonderlich gut verborgen, denn ich konnte spüren, wie Mrs Ford mich beobachtete, während sie Spiegeleier mit Schinken briet und dabei so
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher