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Die Tochter der Seidenweberin

Die Tochter der Seidenweberin

Titel: Die Tochter der Seidenweberin
Autoren: Ursula Niehaus
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    Prolog
    Valencia 1490
    F ür den alten Wilhelm ging es ans Sterben. Er wusste es, und doch waren seine Züge unbewegt wie gewohnt. Auf seinem eingefallenen Gesicht lag nicht die geringste Furcht davor, bald schon die Missetaten, die er sein Lebtag begangen hatte, vor seinem Schöpfer rechtfertigen zu müssen. Und derer waren es bei Gott genügend gewesen.
    Mit einem schwachen Winken bedeutete der alte Kaufmann seinem Sohn, näher zu treten. Die Kerzen flackerten unruhig und warfen fratzenhafte Schattenbildnisse an die getünchten Wände, als der junge Mann an die Bettstatt des Vaters trat.
    Aus der Düsternis der Vorhänge löste sich die hagere Gestalt des Advokaten, und auf ein Nicken des Alten hin begann er zu verlesen, was der alte Wilhelm seinem Sohn zu vermachen gedachte.
    In Alejandros klaren Zügen spiegelte sich gespannte Wachsamkeit. Unwillkürlich wischte er sich die nachtschwarze Haarsträhne aus dem Gesicht, die ihm hartnäckig in die Stirn fiel, während er ungeduldig der eintönigen Nennung von Gütern und Barschaften zuhörte. Nicht, dass ihn die Aufzählung überrascht hätte. Er hatte eine ziemlich genaue Vorstellung vom Umfang des Vermögens seines Vaters. Es klang wie das ihm vertraute Inventar der Bodega, die er leitete. Doch Alejandro wartete auf etwas anderes.
    Sein Blick heftete sich auf das bereits vom Tode gezeichnete Antlitz seines Vaters. Schwach war der Alte geworden, mager und gebrechlich. Aber wenn Alejandro gehofft hatte, der nahe Tod hätte das Gemüt des Alten besänftigt, so sah er sich getäuscht. Das metallische Leuchten der blauen Augen hatte an Kälte kaum verloren.
    Die Aufzählung endete, der Advokat rollte das Blatt zusammen, von dem er die Verfügung abgelesen hatte, und trat in bescheidener Höflichkeit einen Schritt zurück, als distanziere sich der erfahrene Mann der Jurisprudenz von dem, was er gerade verlesen hatte.
    Alles. Der Alte hatte ihm alles vermacht – das ganze Vermögen, das er in Valencia besaß, dieses komfortable Stadthaus inbegriffen.
    Kalt durchzog Alejandro die Enttäuschung, und er presste die Lippen zusammen. Geld verdiente er selbst genug – ausreichend und mit Freuden. Doch was er sich erwünscht, ja, jeden Tag seines Lebens sehnsüchtig herbeigefleht hatte, das hatte er nicht bekommen. Den Namen. Den Namen seines Vaters, der ihn vom Makel seiner Herkunft reinigen würde.
    Unbewusst ballte Alejandro die Faust. Dies war die letzte Gelegenheit gewesen. Doch sogar im Angesicht des Todes hatte der Alte sich nicht dazu durchringen können, ihn als seinen Sohn anzuerkennen. Alejandro würde bleiben, was er war: der vermögende, aber illegitime Sohn eines ausländischen Kaufmannes und seiner Mätresse.
    Alejandros Züge erstarrten zu einer Maske. Niemand, weder sein Vater noch der Advokat, sollte seine Enttäuschung bemerken.
    Seit bald fünfundzwanzig Jahren, seit der alte Wilhelm – er zählte damals schon um die fünfzig Jahre – nach Valencia zurückgekehrt war, um sich für immer hier niederzulassen, hatte Alejandro keinen sehnlicheren Wunsch gehabt, als von seinem Vater anerkannt zu werden und dessen fremdländischen Namen zu tragen, der für seine junge Zunge so schwierig auszusprechen war.
    Dabei machte Letzteres eigentlich keinen Unterschied, denn den Namen kannten ohnehin nur wenige. Man sprach den Alten gewöhnlich nur respektvoll mit »Senyor« an, allenfalls mit »Senyor Wilhelm«. Und in den Kreisen der Kaufmannschaft in Valencia, mit der er geselligen Umgang pflegte, war er schlicht »der alte Wilhelm«.
    Alejandro wusste, der Alte hätte seine Mutter nie heiraten können, selbst wenn er es gewollt hätte, denn er war bereits verheiratet, an einem Ort fern von hier. Seine Mutter hatte es ihm damals erklärt, als sie in das Haus des Alten gezogen waren. Dieses Haus im Herzen von Valencia, das so weitläufig war und so prächtig, dass es dem Zehnjährigen vorgekommen war wie ein Palast.
    Aber Alejandro als seinen leiblichen Sohn anzuerkennen, der er unleugbar war – die auffällig blauen Augen verrieten es jedem Betrachter auf den ersten Blick –, das hätte er gekonnt. Es wäre ein Leichtes gewesen – und was hätte er sich dabei vergeben?
    Doch einen Sohn hatte er auch schon. Einen legitimen, geboren von einem ihm rechtmäßig angetrauten Eheweib. Auch das hatte die Mutter Alejandro erzählt. Seither brannte in ihm ein gänzlich unangemessener Hass auf diese andere Familie seines Vaters, geboren aus blankem Neid.
    Wann
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