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Vom Ende einer Geschichte

Vom Ende einer Geschichte

Titel: Vom Ende einer Geschichte
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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die Idee, die abgegriffensten Titel könnten Erwerbungen aus zweiter Hand sein.
    Ihr eigenes Regal enthielt eine Menge Lyrik in gebundener wie in broschierter Form: Eliot, Auden, MacNeice, Stevie Smith, Thom Gunn, Ted Hughes. Da standen Orwell und Koestler in Ausgaben des Left Book Club, einige ledergebundene Romane des neunzehnten Jahrhunderts, ein paar Bücher mit Illustrationen von Arthur Rackham aus ihrer Kinderzeit und ihr Trostbuch Mein Sommerschloss. Ich zweifelte keinen Moment daran, dass sie dasalles gelesen hatte oder dass dies die Bücher waren, die man eigentlich besitzen sollte. Außerdem wirkten sie wie eine organische Fortsetzung von Veronicas Intellekt und Persönlichkeit, während meine mir wie etwas funktional Getrenntes erschienen, als wollten sie einen Charakter darstellen, in den ich erst noch hineinzuwachsen hoffte. Diese Diskrepanz löste bei mir eine gelinde Panik aus, und beim Anblick von Veronicas Lyrik-Regal fiel mir ein Spruch von Phil Dixon ein.
    »Natürlich fragen sich alle, was Ted Hughes wohl macht, wenn ihm mal die Tiere ausgehen.«
    »Alle fragen sich das?«
    »Hab ich jedenfalls gehört«, antwortete ich lahm. Aus Dixons Mund hatte das geistreich und raffiniert geklungen, aus meinem nur bemüht witzig.
    »Dichtern geht nicht so der Stoff aus wie Romanciers«, belehrte sie mich. »Weil sie nicht im selben Maß vom Stoff abhängig sind. Und du redest von ihm, als wäre er so etwas wie ein Zoologe. Aber selbst Zoologen kriegen doch nie genug von den Tieren.«
    Sie schaute mich an und zog dabei eine Augenbraue bis über den Brillenrand hoch. Sie war fünf Monate älter als ich, aber manchmal gab sie mir das Gefühl, es wären fünf Jahre.
    »Das hat halt mein Englischlehrer so gesagt.«
    »Nun, da du jetzt auf die Universität gehst, müssen wir wohl zusehen, dass du selbst denkst.«
    Dieses »wir« ließ mich fast glauben, ich hätte nicht alles falsch gemacht. Sie wollte einfach dafür sorgen, dass ich mich verbesserte – was sollte ich da wohl dagegen haben? Gleich am Anfang hatte sie mich gefragt, warum ich meine Uhr innen am Handgelenk trug. Ich fand keine Begründung dafür, darum drehte ich die Uhr herum undtrug dann die Zeit außen, wie alle normalen erwachsenen Menschen.
    Ich verfiel in eine zufriedene Routine von Arbeit, Freizeit mit Veronica und dann, in meiner Studentenbude, explosivem Onanieren zu Fantasien von einer mit gespreizten Beinen unter mir liegenden oder gekrümmt über mir hockenden Veronica. Der tägliche vertraute Umgang machte mich zum stolzen Kenner in Sachen Make-up, Bekleidungsregeln, Damenrasierern sowie dem Geheimnis und den Auswirkungen der Periode der Frau. Zu meinem Erstaunen erregte diese regelmäßige Erinnerung an etwas so ganz und gar Weibliches und Bestimmendes, so mit dem großen Kreislauf der Natur Verbundenes meinen Neid. Vielleicht habe ich es genauso schlecht ausgedrückt, als ich das Gefühl zu erklären versuchte.
    »Du romantisierst nur, was du nicht hast. Der einzige Zweck der Sache ist, dass du weißt, du bist nicht schwanger.«
    Angesichts der Art unserer Beziehung fand ich das etwas keck.
    »Tja, wir sind hier hoffentlich nicht in Nazareth.«
    Es folgte eine dieser Pausen, in der ein Paar stillschweigend übereinkommt, etwas nicht weiter zu diskutieren. Und was wäre da auch zu diskutieren gewesen? Nichts als, vielleicht, die ungeschriebenen Bedingungen unseres Tauschhandels. Dass wir keinen Sex miteinander hatten, entband mich in meinen Augen der Notwendigkeit, in der Beziehung etwas anderes zu sehen als eine enge Komplizenschaft mit einer Frau, die, um ihren Teil zu dem Geschäft beizusteuern, den Mann nicht fragen würde, wohin diese Beziehung führen sollte. So jedenfalls stellte ich mir diesen Handel vor. Aber ich täuschemich meistens, damals wie heute. Warum ging ich zum Beispiel davon aus, dass Veronica noch Jungfrau war? Ich hatte sie nie gefragt, und sie hatte es mir nie gesagt. Ich ging davon aus, weil sie nicht mit mir schlafen wollte: Wo soll da die Logik sein?
    An einem Ferienwochenende wurde ich eingeladen, ihre Familie kennenzulernen. Sie wohnte in Kent, an der Eisenbahnstrecke nach Orpington, in einem der Vororte, die in allerletzter Minute aufgehört hatten, die Natur kaputtzubetonieren, und sich seitdem selbstgefällig als ländliche Gemeinden bezeichneten. Als ich in Charing Cross in den Zug stieg, machte ich mir Sorgen, ich könnte mit meinem großen Koffer – dem einzigen, den ich hatte – wie ein potenzieller
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