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Onkel Wanja kommt

Titel: Onkel Wanja kommt
Autoren: W Kaminer
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Das Philosophenschiff
    Jedes Mal, wenn ich nach Russland fahre, schaue ich mir die alten Schwarzweißfotos meines Onkels an. Wir spielen dabei stets das gleiche Spiel: Finde den Onkel auf dem Bild. Ich vergleiche die Fotos mit meinen Eindrücken draußen und versuche, anhand dieser Zeitdokumente festzustellen, wie stark bzw. wenig das Land sich verändert hat. Denn auf kurze Sicht ist die Wahrheit nicht zu erkennen, daher sind auch Zeitungen und Fernsehberichte keine große Hilfe. Manche meinen, das Land stehe am Anfang einer neuen Ära, die anderen behaupten, umgekehrt, es sei dem Untergang geweiht. Mit einem Blick aus dem Fenster ist jedoch ein Aufgang nicht von einem Untergang zu unterscheiden. Ähnlich ist es, wenn man auf die Sonne am Himmel schaut. Auch bei ihr ist nicht gleich klar, ob sie auf dem Weg nach unten oder nach oben ist. Die meiste Zeit hängt die Sonne einfach herum und strahlt. Irgendwann ist sie weg, und niemand wundert sich.
    Ebenfalls in Russland haben sich Gut und Böse verschmolzen, sozialistische Angeberei und kapitalistische Schläue. Bei vielen neuen Entwicklungen schmeißen die Russen beides in einen Topf, um »nicht zweimal vom Sofa aufzustehen«. Während in Deutschland zum Beispiel die Nachrichtenprogramme im Fernsehen durch Werbepausen unterbrochen werden und die Zuschauer in dieser Zeit mit geübter Hand den Ton ausmachen können, ohne eine wichtige Nachricht zu verpassen, sprechen die russischen Nachrichtensprecher im Fernsehen die Werbung gleich mit. »Ja«, sagen sie, »die Lage in der Krisenregion spitzt sich weiter zu, der nächste Finanzcrash steht vor der Tür, die Wirtschaft ist aufgebracht, der Weltsicherheitsrat kann keine Stabilität mehr garantieren. In solchen Zeiten muss man seine Aufmerksamkeit besonders auf seine Verdauung richten. Mit der Zauberformel von Actimel werden Sie Ihre Verdauung unabhängig machen von den Entscheidungen des Weltsicherheitsrates.«
    Oft und gern wird in den Nachrichtenprogrammen Werbung für Kopfschmerztabletten, für Schmerzmittel überhaupt, gemacht. Vielleicht denken die Nachrichtenmacher, die Medizin werde den Weltschmerz mindern, den ihre Nachrichten hervorrufen. Die politische Ideologie der Vergangenheit wird im heutigen Russland zum großen Teil durch die Religion ersetzt, so bekommt man oft in den Nachrichten von Adepten der Kirche zu hören, der wahre Grund jedes Unglücks sei der Unglaube, und alle Gnade komme von Gott. Die Tabletten muss man dennoch essen, aus Demut wahrscheinlich.
    Mein Onkel sagt aber, die Tabletten helfen nicht. Wenn er sich nicht wohlfühlt, holt er seine alten Fotos aus dem Schrank. In seiner Generation war und ist das Aufbewahren und Anschauen dieser alten Bilder sehr verbreitet. Beinahe jeder aus seinem Jahrgang hat, glaube ich, mindestens 44 vergilbte Fotos in irgendeiner Schublade. Die Ironie des Fortschritts besteht heute darin, dass zwar jeder mit seinem Handy tausende von Fotos in bester Qualität machen kann, aber dann nichts mit ihnen anzufangen weiß. Die Schnappschüsse werden entweder gleich gelöscht oder im Jenseits des Internets abgeladen und vergessen. Die Schwarzweißfotos früherer Generationen haben dagegen ihre Wichtigkeit im Lauf des Lebens noch gesteigert. Sie sollen als Beweis dafür dienen, dass es einen tatsächlich gegeben hat, dass die Zeit läuft, die Uhrzeiger sich auch hinter unserem Rücken drehen und die Uhren für keine Sekunde aufhören zu ticken – nicht einmal nachts. Die Fotografien meines Onkels lassen einen allerdings daran zweifeln, dass es ihn jemals gegeben hat, denn auf keinem einzigen ist er richtig zu sehen. Zum Beispiel hier das Foto seiner Schulklasse, ein Gruppenfoto erster Güte. Die Jungs stehen, glatt gekämmt und ernst in die Kamera blickend, in den oberen Reihen, unten stehen die Mädchen, festlich gekleidet mit akkuraten Zöpfen, ganz unten die Lehrer und der Direktor. Nur der Onkel ist nirgends zu finden.
    »Die Jungs haben mich hier in der Mitte versteckt«, erklärte er mir seine Abwesenheit. »Alle wussten vom Besuch des Fotografen und haben sich dementsprechend hübsch gemacht, nur ich hatte es vergessen. Ich kam in einem alten T-Shirt und mit schmutziger Hose in die Schule. ›Versteck dich, du Hund!‹, schrie mich der Direktor an, ›ich möchte auf meine alten Jahre deine dreckige Visage nicht in meinen Erinnerungen haben!‹ So habe ich mir ein Versteck zwischen den Jungs gesucht. Doch wenn man genau hinguckt, kann man mein linkes Ohr in der
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