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Onkel Wanja kommt

Titel: Onkel Wanja kommt
Autoren: W Kaminer
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Odessa. In Odessa selbst tauschte er dann auch noch einmal und wohnte dadurch auf einmal wie ein König, direkt am Meer. Zwei Jahre später tauschte er sich jedoch aus Odessa mit Zuzahlung nach Moskau zurück und fand sich schließlich in dem gleichen Zimmer und sogar mit ähnlichen Nachbarn wieder wie zu Anfang, nur diesmal an einem anderen Ende der Stadt. Danach hat er aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr getauscht, aber immer mit Begeisterung von seinen Umzügen erzählt. »Natürlich hat es sich gelohnt!«, warf er sich in die Brust. Er habe so viele Orte gesehen, interessante Menschen kennengelernt, Frauen, Freunde fürs Leben. Nein, er würde auch im Nachhinein alles genau so noch einmal machen, er würde sein Schicksal mit niemandem tauschen wollen, aber sein Zimmer – sehr gern.
    Ich habe ihn damals in Odessa besucht, in seiner schönen Wohnung. Er hatte einen Job als Buchhalter am Hafen gefunden und zufällig eine nette Dame aus der Wohnungsbaugenossenschaft »Der Seemann der Schwarzmeerflotte« kennengelernt. Sie hatte ihm geholfen, eine Einzimmerwohnung mit Blick aufs Meer zu bekommen. Aus dem Fenster konnte man bei gutem Wetter das Ein- und Auslaufen der Schiffe beobachten. Die meisten bewegten sich nicht, andere schwammen langsam von links nach rechts und zurück am Fenster meines Onkels vorbei.
    Ich saß damals auf seinem Balkon und beobachtete das Meer. Man sah nichts außer diesen faulen Schiffen, die beinahe im Wasser schliefen. Manche von ihnen zeichnete ich in einem Block ab, trotzdem konnte ich in ihren Manövern keinen Plan entdecken. Aus meiner Sicht schwammen sie völlig sinnlos im Meer umher, als könnten sie sich nicht entscheiden, wohin. In meiner Phantasie stellte ich mir immer wieder vor, das Haus meines Onkels wäre in Wirklichkeit ein solches Schiff und würde langsam von Odessa Richtung Amerika driften. Die Grenzen auf See stellt man sich sowieso irgendwie menschenfreundlicher vor als die auf dem Festland. Keine Soldaten mit Maschinengewehren, kein Stacheldraht, keine Wachhunde. Nur die Möwen würden uns über die Grenze begleiten.
    In Moskau und später in Berlin vermisste ich das Meer und die Schiffe sehr. In unserer jetzigen Wohngegend, auf der Schönhauser Allee, erinnert nur »Der Fischladen« an das maritime Leben: ein kleiner Verkaufstresen mit eingebautem Fischrestaurant. Der Laden gehört Thomas, einem Österreicher, der sehr gute Fish and Chips anbietet. Thomas erzählte uns, er sei früher Schiffsbauer gewesen und würde sich deswegen für Schiffe, Meere und Fische interessieren. Er habe außerdem vor, seinen nächsten Urlaub in der Karibik auf dem größten jemals gebauten Schiff zu verbringen. Das Schiff hätte bis zu 5000 Passagiere an Bord, 100 Restaurants, mehrere Schwimmbäder, ein Filmtheater, Golfplätze und sogar eine Gokartbahn. Das werde sein luxuriösester Urlaub, er habe eine Flatrate-Reise gebucht, behauptete er.
    Mit Flatrate auf einem Schiff – das heißt, er kommt nie mehr wieder, dachte ich. »Das wird eine endlose Reise, schade um den Fischladen«, sagte ich. So sei es nicht, er käme schon zurück, erwiderte Thomas. Sobald er alle hundert Restaurants besucht, alle Filme gesehen und genug Golf gespielt habe, alle Damen und Herren und Wellen in der Karibik mit Namen und Nachnamen kennengelernt habe, komme er zurück nach Berlin, um hier weiter Fish and Chips zu verkaufen. Überdies gelte die Flatrate nur für maximal zwei Wochen, das heißt, er dürfe sich nur vierzehn Tage auf dem Schiff amüsieren, danach sei er verpflichtet, es zu verlassen. Auf die Frage, wohin sein Schiff denn überhaupt fahre, wusste Thomas keine Antwort.
    Das Schiff ist inzwischen wohl das einzige Transportmittel, mit dem keine schnelle Reise zu machen ist, das überhaupt auf kein konkretes Reiseziel angewiesen ist. Es ist vielmehr eine Art, sich von der restlichen Welt abzuschotten. Man schaukelt irgendwo auf den Wellen, während die anderen ackern. Früher wurden Menschen und Tiere auf Schiffe getrieben. Es sei nur an die Arche Noah erinnert, das erste Schiff dieser Art, das sich ohne Ziel auf dem Wasser bewegte und sich dann auf die Suche nach festem Land machte. Und sogenannte Idiotenschiffe brachten regelmäßig und mehr oder weniger unfreiwillig europäische Auswanderer nach Amerika, damit sie ihren einstigen Nachbarn mit ihrem Traum vom schnellen Geld nicht endlos auf den Sack gingen.
    In meiner gurkenähnlichen Heimat trug das berühmteste Schiff dieser Art den Titel
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