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Onkel Wanja kommt

Titel: Onkel Wanja kommt
Autoren: W Kaminer
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ihn schon vom Berliner Hauptbahnhof ab.

Im Sternbild des Weichenstellers
    Der Zug aus Moskau – es gibt nur einen – braucht 26 Stunden bis Berlin. Er fährt in Moskau kurz vor Mitternacht los und kommt am Berliner Hauptbahnhof laut Fahrplan kurz nach Mitternacht an. Zwei Stunden verliert er irgendwo unterwegs. Dieser Zug überschreitet nicht nur die Grenzen des Landes, sondern auch die der Zeit. Die russische Eisenbahn hat nicht nur breitere Gleise, auf die kein westlicher Zug passt, Russland hat auch seine ganz eigene Zeit, und die Passagiere, die das Land verlassen wollen, haben zwei Stunden zusätzlich zum Nachdenken, ob sie es wirklich tun sollen.
    Der Hauptbahnhof ist nachts viel angenehmer als am Tag. Die Hektik des Verkehrs erlischt, die letzten Reisenden verlassen das Gebäude, und nur einige wenige Russen versammeln sich an Gleis 6, um ihre Freunde, Verwandten oder Bräute abzuholen. Ich bin schon öfter nachts am Bahnhof gewesen und habe auf Gäste oder Postsendungen aus dem Moskauer Zug gewartet. Seine Ankunft ist jedes Mal ein Spektakel. Auch die Putzleute im Bahnhofsgebäude warten auf den »Russenzug«, erst danach fangen sie richtig an, sauber zu machen.
    Der Zug hält sich so gut wie nie an den Fahrplan, er kann später, aber auch früher als erwartet ankommen, und er sieht anders aus als die sonstigen einfahrenden Züge – als wäre er mit hoher Geschwindigkeit durch riesige Pfützen gerast, wahrscheinlich Zeitpfützen, wobei die zwei überflüssigen russischen Stunden in tausend Mikrosekunden zersprangen und nun als kleine dunkle Pünktchen überall an der Lokomotive und an den Waggons kleben. Und die Schaffner, diese Schlepperbande! Sie kommen mir vertraut vor, und wie alte Bekannte grüßen wir uns am Gleis. Immerhin bin ich selbst vor zwanzig Jahren in Moskau in diesen Zug gestiegen, am Weißrussischen Bahnhof, der damals wie der Turm zu Babel kurz vor seiner Vernichtung aussah. Der Bahnhof ist das Gesicht einer Stadt. Wenn am Bahnhof nichts los ist, wird es auch in der Stadt nicht brummen, und in Moskau war damals einiges los. Als ich 1990 beschloss, meine Heimatstadt zu verlassen und Richtung Berlin zu fahren, habe ich einen ganzen Tag in der Schlange am Bahnhof verbracht, um eine Fahrkarte zu ergattern. Damals ähnelten alle Bahnhöfe der russischen Hauptstadt dem Turm zu Babel. Sie waren mit Reisenden überfüllt, die einander nicht verstanden, den ganzen Tag herumliefen und trotzdem nicht vom Fleck kamen. Der von Michael Gorbatschow eingeleitete politische Wandel in der Sowjetunion sorgte dafür, dass sich das halbe Land in einen Bahnhof verwandelte mit einer Bevölkerung, die sich auf der Durchreise in eine ungewisse Zukunft befand.
    Der Bahnhof wurde außerdem zum ersten Rückzugsgebiet der Opfer des Kapitalismus, zur einzigen sozialen Einrichtung, bei der es noch Licht und Wärme umsonst gab. Obdachlose, verprellte Kleinhändler, Frauen, die auf ihrem Eroberungskurs durch Moskau vom rechten Gleis abgekommen waren – alle von der neuen Gesellschaftsordnung Erniedrigten und Beleidigten sammelten sich an und in den Bahnhöfen. Wenn eine Polizeistreife vorbeikam, schauten sie auf die Anzeigetafel, als ginge ihre Reise jeden Moment los und sie würden bloß noch auf den richtigen Zug warten. Die verschiedensten Ziele erschienen auf der Tafel und erloschen wieder, aber der richtige Zug kam und kam nicht. Die Leute belegten alle Heizungsrohre und Fensterbretter, später begannen sie, sich aus ihren Reisekoffern kleine Siedlungen zu bauen. Sie näherten sich einander an, gründeten Familien, zeugten Kinder, zankten sich und gingen wieder auseinander, blieben dabei aber immer in Bahnhofsnähe. Ich bin sicher, dass manche von ihnen irgendwann ganz vergessen hatten, dass sie sich auf einem Bahnhof befanden und eigentlich auf einen Zug warteten.
    Später, nach den ersten Irrungen und Wirrungen der kapitalistischen Neuzeit, möbelte die Stadtverwaltung die Moskauer Bahnhöfe auf, sie wurden neu gestrichen und zu großen Verkaufstempeln umgebaut. Man ging zum Bahnhof wie ins Kino. Edle Casinos, Cafés und teure Boutiquen hielten in den Bahnhofsunterführungen Einzug. Die Eingänge wurden fortan polizeilich überwacht, und hinein kam man nur noch mit einer gültigen Fahrkarte oder gegen eine Eintrittsgebühr, die man direkt bei der Polizeistreife zahlen musste. Alle unentschlossenen Reisenden samt ihren Familien und Bergen von Koffern verschwanden über Nacht in unbekannte Richtung. Vielleicht war
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