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Onkel Wanja kommt

Titel: Onkel Wanja kommt
Autoren: W Kaminer
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mitbringen.
    Außer zu Gosch gehe ich auch gerne in die Bahnhofsbuchhandlung, wenn es die Zeit erlaubt. Es sind dabei nicht die Bücher, sondern die Menschen, die mich faszinieren. Ein ganz besonderer Schlag Lesepublikum steht dort vor den Regalen. Ich glaube, Bahnhofsbuchhandlungen unterscheiden sich stark von ihren Schwestern in der Innenstadt, denn nirgendwo, in keinem anderen Einkaufstempel, gibt es so viel unentschlossene Laufkundschaft, der man alles nur Denkbare anzudrehen versucht. Die Laufkundschaft am Bahnhof teilt sich traditionell in zwei gleich große Gruppen auf: Menschen, die immer zu spät, und Menschen, die immer zu früh da sind. Der Anteil der Passagiere, die leger durch die Bahnhofshalle spazieren und zum richtigen Zeitpunkt in den richtigen Zug einsteigen, ist mikroskopisch klein, man kann ihn in diesem Text vernachlässigen. Die Mehrheit rennt entweder mit glühendem Kopf herum oder führt entspannt ihre Rollkoffer durch die Bahnhofsgeschäfte spazieren.
    Mit den ersten, die immer zu spät kommen, kann man keine Geschäfte machen, sie haben dafür keine Zeit. Die anderen aber, die zu früh gekommen sind, das ist die beste Kundschaft. Sie lesen mehr, sie sehen mehr, und sie wissen mehr. Was die anderen betrifft: Wer zu spät kommt – was dem passieren kann, das wissen wir inzwischen. Das hat uns Gorbatschow damals schon erklärt, kurz bevor ich nach Berlin kam. Wahrscheinlich ziehe ich es deswegen vor, immer etwas zu früh am Bahnhof anzukommen.
    Ich hätte zwar wetten können, dass der russische Zug mindestens eine halbe Stunde Verspätung haben würde, fuhr jedoch für alle Fälle eine halbe Stunde früher von zu Hause ab. Trotz der späten Stunde hatte sogar die Bahnhofsbuchhandlung noch auf. Aus Spaß machte ich mich dort auf die Suche nach meinen eigenen Büchern. In einer normalen großen Buchhandlung sind meine Bücher unter dem Buchstaben K zu finden, normalerweise zwischen Kafka und Konsalik. Ich weiß, dass das kein Zufall ist. Die Anfangsbuchstaben haben eine tiefere Bedeutung – wir vom K-Regal sind ja fast alle Humoristen. Kafka habe ich in Moskau im Theaterinstitut studiert. In der sowjetischen Literatur-Enzyklopädie stand über ihn trocken und auf den Punkt gebracht: »Kafka, Franz: wichtiger Vertreter der Prager Gruppe deutscher Autoren. Bekannt sind seine Romane Das Schloss , Der Prozess und Amerika . Seine Helden sind einsame Menschen. Sein Hauptthema die pessimistische Flucht aus der Realität letztlich in den Tod: Eine begabte, aber geistig instabile Persönlichkeit wird vom kapitalistischen Milieu vernichtet. Kafka gehörte der kleinbürgerlichen Intelligenz zu Zeiten des imperialistischen Krieges an, er kritisierte seine Klasse, konnte sich aber nicht von ihr befreien.«
    Der große russische Exil-Schriftsteller Nabokov nahm Kafkas Erzählung Die Verwandlung als die einzig wertvolle des deutschsprachigen Raumes in seine berühmten amerikanischen Lektionen über die europäische Literatur auf. Als fanatischer Hobby-Entomologe, der seine ganze Freizeit den Insekten widmete, glaubte Nabokov sogar zu wissen, dass der Held der Erzählung, Gregor Samsa, sich nicht in irgendeinen Käfer, sondern in einen Schmetterling mit kleinen Flügeln verwandelte. Auch der Hinweis auf ein geöffnetes Fenster spreche dafür, dass Kafka seinem Helden die Möglichkeit ließ, der Menschenwelt zu entfliehen, was Samsa jedoch nicht tat. »In dem ewigen Kampf zwischen dem Individuum und der Welt muss man auf der Seite der Welt stehen«, schrieb Kafka dazu.
    Über meinen anderen Regal-Nachbarn – Konsalik, Heinz – stand nichts in der sowjetischen Literatur-Enzyklopädie. Dafür hat er die meisten Besteller deutscher Sprache geschrieben. Ich habe sie einmal im Internet gezählt und kam auf 125 in 45 Jahren. Seine Werke hatten oft ähnliche Titel: Natalia, ein Mädchen aus der Taiga; Ninotschka, die Herrin der Taiga; Eine Liebe in Sibirien; Liebesnächte in der Taiga; Ein Arzt in der Taiga; Ein Mädchen aus Torusk usw. Sie erzählten auch immer wieder die gleiche Geschichte: Ein deutscher Kriegsgefangener mit starken masochistischen Zügen verliebt sich in dem roten Riesenreich in eine dominante russische Frau in Uniform mit Lederstiefeln und Riesenbrüsten. Er kann ohne diese Frau nicht mehr leben, er will, dass sie ihn tritt und peinigt. Manisch verfolgt der Deutsche diese wilden Taiga-Tanten durch Sibirien, manchmal durch die halbe Welt, manchmal kommt er den großen Brüsten sehr nahe, doch
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