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Der Sommer der Legenden

Der Sommer der Legenden

Titel: Der Sommer der Legenden
Autoren: Sarah Eden
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Kapitel 1

    Er kannte die Zeichen und wusste sie zu deuten. Das Leben war kein Leben mehr für ihn, sondern nur noch Siechtum und Qual. Nicht erst seit gestern, sondern seit über fünfzig Jahren!
    Und nun war es soweit.
    Das Flüstern im Raum, das bis tief in die Abgründe seiner grausamen Seele reichte... Die Schatten, die sich wie die Vorboten des Ewigen durch das Halbdunkel bewegten.-. Und der Schmerz, der mit jedem Pulsschlag einen neuen, noch verborgenen Winkel seines ausgezehrten Körpers eroberte.
    All das zeigte ihm, dass er am Ende doch verloren hatte.
    Dennoch gab es keine wirkliche Reue, keine aufkeimenden Skrupel über seine Taten in seinen Gedanken.
    Er zermarterte sich lediglich das Hirn, wie das, was er auf dem Blut Unschuldiger aufgebaut hatte, auch künftig erhalten werden konnte - als Denkmal für die Nachwelt.
    Er dachte auch an den, mit dessen Hilfe er seinen Besitz verteidigte und ausgeweitet hatte.
    Das war lange her, und ein Hauch von Bitterkeit war mit dem Namen des einstigen Freundes verbunden...
    Ein Geräusch schreckte ihn auf. Etwas - jemand - bewegte sich am Fuß des schlichten Bettes.
    »Doktor...«, krächzte er. Er hatte geradezu panische Angst, man würde ihm, als Geste falsch verstandener Nächstenliebe, gegen seinen Willen Morphium verabreichen. Er wollte bei klarem Verstand bleiben - bis zum letzten Atemzug. Lieber ertrug er weitere tausend unsichtbare Dolchstöße an tausend verschiedenen Flecken seines verdorrten Fleisches...
    Die Gestalt reagierte nicht. Kein beruhigendes Wort, keine Geste des Verstehens. Sie trug auch nicht das vertraute Weiß, das sie sonst stets wie ein Gespenst durch die Schatten flattern ließ... .
    Er war nicht mehr allein. Das spürte er ganz deutlich, und wenn er seine alten Augen anstrengte, konnte er deutlich die seinen Blicken beständig entfliehenden Umrisse eines fast nackten, hochgewachsenen Mannes erkennen, dessen Silhouette das Krankenlager mit beschwörenden Gesten umtanzte.
    »Weg!« krächzte der Alte. »Verschwinde!«
    Eine Hand stahl sich unter der dünnen Decke hervor und fuchtelte wild, als könnte sie den Spuk damit vertreiben.
    Aber der böse Geist blieb.
    Hämische Laute mischten sich unter das Röcheln des Alten.
    Er kannte die Stimme.
    Die Gesichter wechselten, aber die Stimmen blieben seit einem halben Jahrhundert gleich...
    Er wusste nicht, wie es ihnen gelungen war, sich hier einzuschleichen.
    Er kannte auch ihre Rituale nicht. Doch der Zauber, den sie sich zunutze machten, war wirkungsvoll. Mehr als einmal hatte er es erlebt.
    Der sterbende Alte fürchtete plötzlich um seine, Seele...!
    Ein Leben lang war ihm sein Seelenheil gleichgültig gewesen. Aber nun, an der Schwelle in eine andere Welt, entsetzte ihn der Gedanke, bald in der Hölle dieser Wilden zu schmoren.
    Noch einmal mobilisierte er alle verbliebenen Kräfte, lenkte die greise Hand zum Schalter und läutete die Stationsschwester herbei...

    Das Zimmer war abgedunkelt. Kein Sonnenstrahl sickerte durch die schweren Vorhänge, und außer einem permanenten leisen Röcheln störte nichts die Stille des nahen Todes. Die Atmosphäre im Innern des spartanisch eingerichteten Raumes erinnerte an die Zeitlosigkeit eines Mausoleums.
    Carol wagte kaum, tief durchzuatmen. Sie hockte wie paralysiert auf dem harten Stuhl neben dem Krankenbett und fixierte das schneeweiße, eingefallene, von Runzeln übersäte Gesicht, in dem noch Spuren jener unmenschlichen Härte zu lesen waren, die »Big John« stets ausgezeichnet hatten.
    Diesen lauten, erbarmungslosen Riesen, der Nachbarn, Verwandte und andere terrorisiert hatte, solange man zurückzudenken vermochte. Carol kannte vieles nur aus Erzählungen - aber das Wenige, das sie selbst erlebt hatte, genügte, um sich ein Bild ihres Onkels zu machen.
    Als kleines Mädchen von knapp sieben Jahren hatte sie ihn zum letzten Mal gesehen.
    Und nun, auf dem Sterbebett, hatte er nach ihr rufen lassen.
    Carol starrte auf die ausgemergelte Gestalt. Seit einer halben Stunde kauerte sie halb zusammengesunken vor dem Bett des alten Mannes und wartete darauf, dass er endlich die Augen öffnete, um ihr zu sagen, weshalb er sie zu sich gerufen hatte. Die Sekunden und Minuten tropften zäh wie Sirup ins Sammelbecken der Ewigkeit, und noch nie zuvor hatte Carol so bewusst über die Schwelle des Lebens hinweggeblickt. Die fleckige, faltige Hülle des Zweiundneunzigjährigen erinnerte sie an ihr eigenes Ende - mochte es noch so weit in der Zukunft liegen.
    Er
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