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Onkel Wanja kommt

Titel: Onkel Wanja kommt
Autoren: W Kaminer
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dann passiert wieder etwas, und weg sind sie. Diese Leidensgeschichten werden in der eindringlichen, einfachen Landsersprache eines pro fessionellen Journalisten mit viel Gefühl erzählt, sodass sich auch dem letzten unbefriedigten Hauptbahnhofs-Buchkäufer diese Taiga-Brüste in sein Hirn brennen, wo sie für immer hängen bleiben. Konsalik hat zwei Milliarden dieser Romane verkauft und ist so reich geworden, dass er am Ende den Verlag erwarb, der seine Bücher veröffentlichte.
    Schaut man etwas aufmerksamer auf die unterschiedlichen K-Autoren, erkennt man, dass sie alle Humoristen sind. Weil ein tragisches, absurdes Leben, ob nun als Schmetterling oder sonst etwas, mit einem unbedingten Tod am Ende, komisch ist. Heute hätte die Samsa-Familie seine Verwandlung wahrscheinlich nicht einmal bemerkt, sie ginge beim Frühstück als Piercing durch. Auch der Held von Konsalik, der niemals aufgibt, immer auf der Flucht vor sich selbst, den imaginären Taiga-Brüsten hinterher durch Wüste und Schnee, ist ein Komiker. Du wirst uns niemals kriegen, flüstern ihm die sowjetischen Brüste aus dem Taiganebel zu. Never! Wir sind alle Witzfiguren, am Gleis der Geschichte stehende Passagiere, die nicht wissen, ob ihr Zug noch nicht angekommen oder schon abgefahren ist.
    In der Bahnhofsbuchhandlung am Hauptbahnhof konnte ich diesmal allerdings weder Kafka noch Konsalik finden, von meiner Wenigkeit ganz zu schweigen. Dafür quoll das D-Regal über: Alles war dort mit Darwin vollgestellt. Darwins Bücher, Darwins Plakate, Biografien Darwins und etliche andere Bücher, die mit Darwin direkt oder, nach Meinung der Buchverkäufer jeden falls, mit der Evolution im Allgemeinen zu tun hatten. So lag auf dem Darwin-Tisch unter anderem die Fantasy-Saga Planet der Affen , außerdem ein Affenkalender. Beides zutiefst antidarwinistische Werke, wenn man sie etwas genauer betrachtete. Doch die wenigen Kunden nahmen den Darwin-Tisch mit dem Affenkalender nur freundlich zur Kenntnis, niemand wunderte sich darüber. In der allgemeinen Wahrnehmung war der englische Finkenforscher vor allem für zwei Thesen berühmt: dass die Menschen vom Affen abstammen und dass immer die Stärkeren überleben, während die Schwächeren zugrunde gehen.
    Darwins Erkenntnisse beruhten auf der Beobachtung von Finken auf den Galapagos-Inseln. In einem sonnigen Jahr hatten sie weiche und kurze Schnäbel. In kalten und nahrungsarmen Jahren wurden ihre Schnäbel immer länger und hart. Aus der Sicht der Evolution befinden wir uns also derzeit in einer sonnigen Phase. Unsere Schnäbel sind kurz und weich. Nur bei manchen sind die Schnäbel trotz bester Wetterbedingungen größer geraten. Laut Darwin werden sie diejenigen sein, die überleben. Die Antidarwinisten behaupten dagegen, dass nur die überleben, die sich den anderen gegenüber solidarisch verhalten, um sich gemeinsam den sich ständig verändernden Lebensbedingungen anpassen zu können. Sie lernen, mit jedem Wetter umzugehen.
    In den sozialistischen Ländern gewann diese Weltsicht die Oberhand. Der sowjetische Wissenschaftler Lyssenko zum Beispiel erzielte in den Fünfzigerjahren große Erfolge bei der Erhöhung der Milcherträge, indem er Kühen aus Memoiren der Helden des sowjetischen Bürgerkrieges vorlas. Es gelang ihm außerdem, allein durch Agitation und Propaganda kälteresistente Kartoffeln zu züchten und die Maisernte deutlich zu verbessern. Seine letzte Theorie, dass Kuckucke ihre Eier in Wirklichkeit nicht in fremde Nester legen, sondern durch spezielle akustische Signale bewirken, dass aus den fremden Eiern Kuckuckskinder schlüpfen, konnte im Labor nicht nachgewiesen werden, weil die Kuckucke sich weigerten, sich in Gefangenschaft zu vermehren, also die richtigen Signale von sich zu geben. Diese sturen Kuckucke haben die Karriere des Wissenschaftlers letzten Endes ruiniert. Wer hat nun Recht, Darwin oder Lyssenko? Ich hoffe, Letzterer. Sonst werden die Menschen bald wie RoboCops aussehen.
    Wäre ich der Buchhandlungsminister, würde ich in jeder Bahnhofsbuchhandlung einen Darwin- und einen Antidarwin-Büchertisch aufstellen, obwohl ich der Gerechtigkeit halber an dieser Stelle sagen muss, dass Bahnhofsbuchhandlungen schon immer eher prodarwinistisch eingestellt waren. Sie haben die dicksten und buntesten Bücher mit riesigen Buchstaben auf dem Cover, die sogar einem blinden Halbalphabeten zugänglich sind, stets ganz nahe an der Kasse platziert und ihnen auch sonst die besten Plätze eingeräumt.
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