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Onkel Wanja kommt

Titel: Onkel Wanja kommt
Autoren: W Kaminer
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Diese Bücher an der Kasse stechen den Kunden ins Auge und dominieren in jedem Laden. Sie werden millionenfach gedruckt und sind in der Regel von Autoren verfasst, die »viel und gut« schreiben. An einen solchen Autor erinnerte sich der Erfinder des russischen psychologischen Romans, Iwan Turgenew. Als er alt und krank in Paris von jungen Autoren besucht wurde, beschwerte er sich, er könne in letzter Zeit gar nichts Gescheites mehr zu Papier bringen. Der junge unbekannte Literat erwiderte daraufhin: »Und ich schreibe in der letzten Zeit viel und gut!«
    »Wir schließen«, sagte die junge Verkäuferin zu mir. »Wollen Sie also nun etwas kaufen?«
    Ich schaute auf die Uhr. Der Zug sollte jede Minute kommen, keine Verspätung war angekündigt. Ich bedankte mich höflich und ging ans Gleis. Ich weiß nicht mehr, wann ich das letzte Mal ein Buch gekauft habe, heutzutage kann man doch alles im Internet lesen. Doch – jetzt fällt es mir wieder ein: Ich habe meiner Tochter Nicole zu Weihnachten Alice hinter den Spiegeln gekauft, meinem Sohn Sebastian eine Comic-Serie und mir selbst ein 1200 Seiten dickes Sartre-Buch, obwohl ich mir sicher war, dass ich dieses Werk niemals durchlesen würde. Trotzdem war es wichtig für mich, das Buch zu besitzen. Die richtigen Bücher erzielen ihre Wirkung durch ihre bloße Existenz, sie müssen nicht gelesen werden. Ein Beispiel hierfür ist Sartre. Sein Buch Das Sein und das Nichts ist eine unglaubliche Erfolgsgeschichte, das bekannteste von allen nicht zu Ende gelesenen Büchern des 20. Jahrhunderts.
    Das Buch ist in Frankreich mitten im Zweiten Weltkrieg erschienen und erreichte auf Anhieb eine unglaubliche Popularität. Es kam 1943 heraus, als die sowjetische Armee gerade dabei war, den Krieg zu gewinnen. An allen Fronten feierte sie Siege, und die Fa schisten wurden langsam, aber sicher zum Rückzug gedrängt. Den Ausgang des Krieges sahen nicht mehr nur Hellseher voraus, und die Franzosen feilten bereits an den Legenden der Résistance, um sich langsam auf ein anständiges Leben nach dem Krieg vorzubereiten. Die Erstausgabe des Buches von Sartre war dick und schwer. In ihm geht es kurz gesagt darum, dass der Mensch selbst in der aussichtslosesten Situation immer die Freiheit hat, eine Entscheidung zu treffen. Jenseits seiner Entscheidungen gibt es den Menschen gar nicht, meinte Sartre. Jeder von uns ist demgemäß sein eigenes »Projekt«, die Summe seiner Handlungen. »Jeder Mensch ist nur das, was er aus sich macht«, schrieb er. Das Sein und das Nichts ist schwer zu lesen, sehr viele fangen es an, aber kaum einer schafft es bis zum Ende. Damals jedoch, 1943, hatte dieses Buch im besetzten Frankreich trotz des Papiermangels eine erstaunlich hohe Auflage. Nicht nur die französischen Linken, auch die Hausfrauen, Bauern und Kleinhändler kauften es, und in jedem Krankenhaus lagen Exemplare davon herum.
    Das Geheimnis des überwältigenden Erfolgs von Sartres Werk erklärte sich laut einer Legende, die von französischen Kollegen immer gerne erzählt wird, aus dem Gewicht des Buches. Das Sein und das Nichts wog genau 1 Kilo, kein Gramm mehr und keines weniger. Vielleicht gab es in Frankreich während des Krieges Probleme mit den Gewichtsmaßen. Mehl und Butter wurden jedenfalls in Sartre gewogen, aber auch Säuglinge, die nach 1943 in Frankreich auf die Welt kamen, wurden in ihrer Mehrheit mit Das Sein und das Nichts als Gegengewicht auf die Babywaage gelegt. Aus ihnen wurde schließlich die 68er-Generation. Diese Kinder, die mit Sartres Buch aufgewogen worden waren, wirkten als Erwachsene in der Realität Nachkriegsfrankreichs darauf hin, der Gesellschaft eine Sozialität zu schaffen, die sie dringend brauchte. Sie stellten dafür eine kleine Revolution auf die Beine, die als 68er-Revolte in die Geschichte einging. Was sagt uns das heute? Im Grunde nichts. Es zeigt bloß, wie wichtig es ist, als Baby mit dem richtigen Buch aufgewogen zu werden.
    Inzwischen versammelten sich alle der auf den russischen Zug Wartenden am Gleis. Aber der Zug kam und kam nicht, er hatte sich anscheinend doch im »Zeitgürtel« vertan und war wahrscheinlich im Sekundennetz irgendeiner Zeitzone hängen geblieben. Keine Ansage, nichts. Der Bahnhof schwieg. Nur zwei Dutzend Russen blickten hoffnungsvoll in die Dämmerung nach Osten. Kommt er, oder kommt er nicht. Er kam, wie ich vermutet hatte, mit einer halben Stunde Verspätung und hielt dann mit einem Geräusch, das sich wie der Todesschrei eines
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