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Onkel Wanja kommt

Titel: Onkel Wanja kommt
Autoren: W Kaminer
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brauchte ich einen Nachweis, dass ich in meiner Wohnung genug Platz hatte und nicht beabsichtigte, die Obdachloseneinrichtungen der Hauptstadt für meine Verwandtschaft in Anspruch zu nehmen. Als Freiberufler hatte ich allerdings keinen richtigen Arbeitgeber, also konnte mir jeder Freund oder Nachbar eine solche Bescheinigung ausstellen, und die Wohnung bietet Platz genug für mehrere Onkels. Ich fuhr also am vereinbarten Tag zur Polizei, schwor auf die Ehrlichkeit der Angaben, bezahlte 30,– Euro, und fertig war die Einladung.
    Sie nach Moskau zu schicken war etwas schwieriger, denn die Post ist in Russland eine unsichere Verbindung. Selbst wenn sie ausnahmsweise einmal funktioniert, kann es zuletzt am Briefträger scheitern. Die Briefträger in Russland entwickeln nicht selten ein ungesundes Interesse an Briefen, die aus dem Ausland kommen. Vielleicht sammeln sie Briefmarken und suchen nach passenden interessanten Bildern für ihre Sammlung. Oder sie vermuten in den Umschlägen wertvolle Inhalte. Manche Briefe kommen nie an, andere erreichen ihre Adressaten dagegen blitzschnell. In gurkenähnlichen Ländern ist das Leben eben ein ständiges Spiel, und die Post funktioniert dort wie russisches Roulette. Die Wahrscheinlichkeit eines Treffers liegt immer bei fünfzig zu fünfzig: entweder – oder.
    Ich schickte meinem Onkel meine Einladung per Post, und siehe da, es funktionierte. Er bekam später aber doch noch Probleme, allerdings von anderer Seite, nämlich mit der deutschen Botschaft. Es dauert in der Regel drei bis vier Tage, ein Visum zu bekommen, doch zuerst muss man einen Antrag bei der Visavergabestelle ausfüllen. Die Termine dafür werden von einer externen Firma verteilt und sind knapp. Als mein Onkel mit der Firma telefonierte, bekam er einen Termin im nächsten Jahr. So lange konnte er nicht warten und rief deswegen mich an, ob ich die Angelegenheit von Berlin aus nicht irgendwie beschleunigen könne. Im Internet fand ich die Seite der deutschen Botschaft mit einem hübschen Weihnachtsmarkt bebildert und der Erklärung, dass »überall in Deutschland der Advent die stimmungsvollste Zeit des Jahres ist«. Was ist an diesem Fest so stimmungsvoll, wo sich doch alle in ihre Wohnungen zurückziehen und dort hinter ihren Gänsebraten verstecken, dachte ich und las weiter: »So lustig geht es bis zum Heiligen Abend am 24. Dezember zu. An diesem Tag feiern die Christen die Geburt von Jesus mit geschmücktem Tannenbaum und Geschenken, die darunter platziert werden. Diese Geschenke sind ein fester Bestandteil der deutschen Kultur.«
    »Sehr geehrte Mitarbeiter der Botschaft« , schrieb ich an die Kontaktadresse. » Ich möchte Sie darum bitten, meinem Onkel noch in diesem Jahr einen Termin zu geben. Der Mann ist alt, und wir haben uns viele Jahre nicht gesehen. Ich wäre Ihnen sehr dankbar. Hochachtungsvoll,
    W. Kaminer«
    Ich spielte mich natürlich als berühmter Schriftsteller auf, doch die Antworten werden von der Botschaft mit Hilfe eines Schreibroboters maschinell geschrieben, für ihn sind alle Menschen gleich, egal ob Schriftsteller oder nicht.
    » Sehr geehrte Damen und Herren «, schrieb mir der Roboter zurück. » Sie bitten um einen Sondertermin in der Visastelle der Deutschen Botschaft Moskau. Sondertermine können jedoch nur in eng begrenzten Ausnahmefällen gewährt werden. Bitte schildern Sie ausführlich Ihr Anliegen unter Darlegung des Reisezwecks und der besonderen Eilbedürftigkeit. Fügen Sie Ihrer E-Mail gegebenenfalls aussagekräftige Anlagen bei, die Ihre Darstellung stützen. Vorsorglich wird darauf hingewiesen, dass eine Sonderterminvergabe für touristische Reisen grundsätzlich nicht in Betracht kommt. «
    » Sehr geehrter Roboter «, wieder ich. » Es handelt sich um ein Missverständnis. Ich habe keine Eilbedürftigkeitsnachweise und keine Ausnahmefälle, ich habe bloß einen alten Onkel, den ich einladen möchte, mich noch in diesem Jahr zu besuchen. Es müssen keine Sondertermine sein, uns reicht auch ein ganz normaler Termin. Es ist eine Herzensangelegenheit, nehmen Sie sie bitte persönlich! «, schrieb ich, wohl wissend, dass Roboter kein Herz haben, schon gar nicht einer von der Botschaft.
    Der Roboter und ich schrieben uns drei Mal hin und her, bis sich eines Tages eine lebendige Frau mit Namen und Nachnamen meldete:
    »Lieber Herr Kaminer, wie heißt denn Ihr Onkel?«
    Er bekam einen Termin für den darauffolgenden Dienstag um 7.30 Uhr früh, und eine Woche später holte ich
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