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Der Fluch der Abendröte. Roman

Der Fluch der Abendröte. Roman

Titel: Der Fluch der Abendröte. Roman
Autoren: Leah Cohn
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Prolog
    Die schrecklichen Albträume, die mich jetzt fast jede Nacht heimsuchen, begannen am Tag von Auroras Schulfest – und der Katastrophe, in der dieses beinahe endete.
    Es war September, und die Sommerferien waren gerade zu Ende gegangen. Am ersten Schultag hatte man alle Eltern zu einer kleinen Aufführung eingeladen, bei der die Kinder zeigen sollten, was sie in den letzten Monaten gelernt hatten: Einige hatten gemeinsam ein Lied einstudiert, andere hielten Vorträge über interessan- te Museumsbesuche oder Urlaubsreisen; selbstgemalte Bilder oder Fotos wurden ausgestellt oder Märchen vorgelesen, die sich die Kinder ausgedacht hatten.
    Ich kam etwas zu spät. Nachdem ich einen frisch gebackenen Apfelkuchen am von Wespen umschwärmten Büfett abgestellt hatte, war die Tribüne schon fast bis auf den letzten Platz besetzt. Sie befand sich auf dem Sportplatz neben der Schule und war kaum mehr als ein altes Holzgerüst, das von Eisenträgern gestützt wurde, auf denen Rost und Schimmel Flecken hinterlassen hatten. Die Stufen knirschten, als ich nach oben stieg, nach einem freien Platz Ausschau hielt und einen in der vorletzten Reihe fand.
    Rasch nahm ich Platz, um niemandem die Sicht zu nehmen, und atmete tief durch. Es war ein später Nachmittag und das Licht noch warm. Die Bäume, vor einer Woche noch hellgrün, glänzten golden, die Berggipfel waren weiß überzogen, und vom Hallstättersee war nur noch ein schmaler Streifen zu erahnen, allerdings nicht mehr einladend türkis, sondern schwarz und kalt.
    Ich hatte einige irritierte Blicke gespürt, offenbar weil ich zu spät kam – nun erkannte ich, dass die Vorführung der Kinder noch nicht begonnen hatte, die Direktorin aber eine endlos lange Rede hielt, in deren Verlauf sie sich für die freiwilligen Spenden und für das ehrenamtliche Engagement des Elternvereins bedankte. Danach stellte sie alle Schüler einzeln vor – darunter auch meine zwölfjährige Tochter Aurora. Ich winkte ihr zu, aber sie war schon so auf ihren bevorstehenden Auftritt konzentriert, dass sie mich nicht bemerkte. Als endlich alle Namen der Schüler genannt waren, kam die Direktorin immer noch zu keinem Ende, sondern sprach nun ausufernd über die Finanzierung einer neuen Turnhalle. Ich rutschte auf der unbequemen Holzbank hin und her und dachte insgeheim, dass eine neue Tribüne wohl notwendiger wäre als eine neue Turnhalle. Auch bei den anderen Eltern machte sich ein spürbares Desinteresse breit. Einer der Väter nickte ein, andere gähnten, in der Reihe vor mir wurde getuschelt. Trotz der allgemeinen Unruhe fielen dennoch strenge Blicke auf mich, als mein Handy plötzlich anfing zu piepsen. Ich zog es rasch aus meiner Tasche, stellte den Ton aus und lächelte entschuldigend, obwohl mir das schwerfiel, als ich die SMS las, die ich bekommen hatte.
    Ich hatte geahnt, was dort stehen würde, und konnte meine Enttäuschung dennoch nicht unterdrücken.
    »Ich komme besser nicht«, las ich auf dem Display – und seufzte tief.
    »Alles in Ordnung?«, hörte ich neben mir eine Stimme. Ich blickte auf. Bis jetzt hatte ich nicht wirklich darauf geachtet, wer um mich herum saß.
    »Hallo, Herr Arndt!«, begrüßte ich den Mann freundlich, der schräg hinter mir saß und sich zu mir vorgebeugt hatte.
    Er deutete auf mein Handy. »Eine schlimme Nachricht?«, fragte er besorgt.
    »Nein, nein, alles in Ordnung«, erklärte ich. Und als er mich weiterhin besorgt musterte, fügte ich rasch hinzu: »Ich glaube, die Aufführung beginnt!«
    Endlich hatte die Direktorin ihre Rede beendet, und zwei Mädchen betraten die Bühne: meine Aurora – und Mia, Auroras beste Freundin und die Tochter von Lukas Arndt. Wie ich winkte auch er ihnen zu – doch sie nahmen uns beide auch jetzt nicht wahr. Wochenlang hatten sie für diesen Auftritt geprobt und wollten nun aller Welt zeigen, wie gut sie mit Tennisbällen jonglieren konnten. Eigentlich war es geplant gewesen, dass sie das möglichst synchron tun sollten, doch davon konnte nun keine Rede sein.
    Während sich Mia unglaublich geschickt anstellte und fünf Bälle gleichzeitig in der Luft halten konnte, hatte Aurora schon mit dreien zu kämpfen. Mia lächelte beim Jonglieren – Aurora hingegen runzelte konzentriert die Stirn. Nicht nur was ihre Geschicklichkeit betraf, hatten die beiden wenig gemeinsam – auch optisch hätten sie nicht unterschiedlicher sein können: Auroras rotbraune Locken fielen ihr bis zu den Hüften. Im letzten Jahr war sie
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