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Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition)

Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition)

Titel: Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition)
Autoren: Alex Capus
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Erstes Kapitel

    Ich mag das Mädchen. Mir gefällt die Vorstellung, dass sie im hintersten Wagen des Orient-Express in der offenen Tür sitzt, während silbern glitzernd der Zürichsee an ihr vorüberzieht. Es könnte Anfang November 1924 sein, an welchem Tag genau, weiß ich nicht. Sie ist dreizehn Jahre alt und ein großgewachsenes, hageres, noch ein wenig ungelenkes Mädchen mit einer kleinen, aber schon tief eingefurchte Zornesfalte über der Nase. Das rechte Knie hat sie angezogen, das linke Bein baumelt über dem Treppchen ins Leere. Sie lehnt am Türrahmen und schaukelt im Rhythmus der Gleise, ihr blondes Haar flattert im Fahrtwind. Gegen die Kälte schützt sie sich mit einer Wolldecke, die sie vor der Brust zusammenhält. Auf dem Zuglaufschild steht »Constantinople–Paris«, darüber prangen goldene Messingbuchstaben und das Firmenzeichen mit den königlich-belgischen Löwen.
    Mit der rechten Hand raucht sie Zigaretten, die im Wind rasch verglühen. Wo sie herkommt, ist es nichts Ungewöhnliches, dass Kinder rauchen. Zwischen den Zigaretten singt sie Bruchstücke orientalischer Lieder – türkische Wiegenlieder, libanesische Balladen, ägyptische Liebeslieder. Sie will Sängerin werden wie ihre Mutter, aber eine bessere. Niemals wird sie auf der Bühne ihr Dekolleté und die Waden zu Hilfe nehmen, wie die Mutter das tut, auch wird sie keine rosa Federboa tragen und sich nicht von Typen wie ihrem Vater begleiten lassen, der stets ein Zahnputzglas voll Brandy auf dem Piano stehen hat und jedes Mal, wenn die Mutter ihr Strumpfband herzeigt, augenzwinkernd ein Glissando hinlegt. Eine echte Künstlerin will sie werden. Sie hat ein großes und weites Gefühl in ihrer Brust, dem sie eines Tages Ausdruck verleihen wird. Das weiß sie ganz sicher.
    Noch ist ihre Stimme dünn und heiser, das weiß sie auch. Sie kann sich selbst kaum hören, wie sie auf ihrem Treppchen sitzt und singt. Der Wind nimmt ihr die Melodien von den Lippen und trägt sie ins Luftgewirbel hinter dem letzten Wagen.
    Drei Tage ist es her, dass sie in Konstantinopel mit den Eltern und ihren vier Geschwistern in einen blauen Wagen zweiter Klasse gestiegen ist. Seither hat sie viele Stunden in der offenen Tür verbracht. Drinnen im Abteil bei der Familie ist es stickig und laut, und draußen ist es mild für die Jahreszeit. In diesen drei Tagen hat sie auf ihrem Treppchen den Duft bulgarischer Weinberge geschnuppert und die Feldhasen auf den abgemähten Weizenfeldern der Vojvodina gesehen, sie hat den Donauschiffern gewinkt, die mit ihren Schiffshörnern zurückgrüßten, und sie hat in den Vorstädten von Belgrad, Budapest, Bratislava und Wien die rußgeschwärzten Mietskasernen mit ihren trüb erleuchteten Küchenfenstern gesehen, in denen müde Menschen in Unterhemden vor ihren Tellern saßen.
    Wenn der Wind den Rauch der Dampflok nach rechts trug, saß sie in der linken Tür, und wenn er drehte, wechselte sie auf die andere Seite. Wenn ein Schaffner sie aus Sicherheitsgründen zurück ins Abteil scheuchte, tat sie, als ob sie gehorchen würde. Kaum aber war er weg, stieß sie die Tür wieder auf und setzte sich aufs Treppchen.
    Am dritten Abend waren die Schaffner kurz vor Salzburg von Abteil zu Abteil gegangen, um eine außerfahrplanmäßige Routenänderung bekanntzugeben. Der Zug würde nach Innsbruck abbiegen und Deutschland südlich durch Tirol und die Schweiz umfahren; seit belgisch-französische Truppen ins Ruhrgebiet einmarschiert waren, gab es für den belgisch-französischen Orient-Express auf der gewohnten Route über München und Stuttgart kaum mehr ein Durchkommen. Die Fahrdienstleiter der Reichsbahn stellten absichtlich die Weichen falsch oder verweigerten der Lokomotive Kohle und Wasser, und in den Bahnhöfen ließ die Polizei sämtliche Passagiere aussteigen und nahm nächtelange Ausweiskontrollen vor, und wenn die Reise dann endlich weitergehen konnte, stand bei der Ausfahrt aus dem Bahnhof oft ein herrenloser Viehwagen oder Rundholztransporter auf der Schiene, den aufs Abstellgleis zu schieben kein Mensch im gesamten Deutschen Reich die Befugnis hatte, solange nicht die formelle dienstliche Einwilligung des rechtmäßigen Besitzers vorlag. Und diesen auf dem ordentlichen Dienstweg zu ermitteln, konnte äußerst zeitaufwendig sein.
    Nach der Einfahrt in Tirol war es dunkel und kühl geworden, beidseits hatten sich Felswände himmelan getürmt und waren bedrohlich näher gerückt. Als das Mädchen sich auf den Rücken hätte
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