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Der Ruf der Kiwis

Der Ruf der Kiwis

Titel: Der Ruf der Kiwis
Autoren: Sarah Lark
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    »Ein Wettrennen! Komm, Jack, bis zum Ring der Steinkrieger!«
    Gloria wartete Jacks Antwort gar nicht erst ab, sondern brachte ihr fuchsfarbenes Pony gleich neben seinem Pferd in Startposition. Als Jack ergeben nickte, legte Gloria leicht die Unterschenkel an, und die kleine Stute stob davon.
    Jack McKenzie, ein junger Mann mit rotbraunem lockigem Haar und ruhigen, grünbraunen Augen, ließ sein Pferd ebenfalls angaloppieren und folgte dem Mädchen über das schier endlose Grasland von Kiward Station. Jack hatte keine Chance, Gloria mit seinem kräftigen, eher langsamen Cobwallach einzuholen. Er war auch zu groß für einen Jockey, aber er gönnte dem Mädchen den Spaß. Gloria war mächtig stolz auf das pfeilschnelle Pony aus England, das wie ein Vollblüter in Kleinformat wirkte. Soweit Jack sich erinnerte, war es das erste Geburtstagsgeschenk ihrer Eltern, mit dem Gloria wirklich glücklich war. Der Inhalt der Pakete aus Europa, die sonst in unregelmäßigen Abständen für sie eintrafen, war wenig spektakulär: ein Rüschenkleid samt Fächer und Kastagnetten aus Sevilla; goldfarbene Schühchen aus Mailand; eine winzige Straußenlederhandtasche aus Paris ... alles Dinge, die auf einer Schaffarm in Neuseeland nicht sonderlich von Nutzen waren und die sich sogar für gelegentliche Besuche in Christchurch als viel zu extravagant erwiesen.
    Doch Glorias Eltern dachten nicht an so etwas, im Gegenteil. William und Kura Martyn stellten es sich wahrscheinlich amüsant vor, die eher hausbackene Gesellschaft in den Canterbury Plains durch einen Hauch »Große Welt« zu schockieren. Hemmungen und Schüchternheit waren beiden fremd, und sie gingen selbstverständlich davon aus, dass ihre Tochter ähnlich fühlte.
    Während Jack nun in halsbrecherischem Tempo über Feldwege preschte, um das Mädchen wenigstens nicht aus den Augen zu verlieren, dachte er an Glorias Mutter. Kura-maro-tini, die Tochter seines Halbbruders Paul Warden, war eine exotische Schönheit und mit einer außergewöhnlichen Stimme gesegnet. Die Musikalität verdankte sie wohl eher ihrer Mutter, der Maori-Sängerin Marama, als ihren weißen Verwandten. Kura hatte von klein auf den Wunsch gehegt, die Opernwelt in Europa zu erobern, und unablässig ihre Stimme ausgebildet. Jack war gemeinsam mit ihr auf Kiward Station aufgewachsen und dachte heute noch mit Grausen an Kuras Gesangsübungen und ihre schier endlose Klavierspielerei. Dabei hatte es zunächst so ausgesehen, als gäbe es im ländlichen Neuseeland keine Chance für sie, ihre Träume zu verwirklichen – bis sie in William Martyn, ihrem Mann, endlich den Bewunderer fand, der ihre Talente zur Geltung zu bringen wusste. Seit Jahren tourten die beiden mit einer Gruppe von Maori-Sängern und Tänzern durch Europa. Kura war der Star eines Ensembles, das traditionelle Maori-Musik mit westlichen Instrumenten zu eigenwilligen Interpretationen verband.
    »Gewonnen!« Gekonnt verhielt Gloria ihr lebhaftes Pony inmitten der Felsformation, die man den »Ring der Steinkrieger« nannte. »Und da hinten sind auch die Schafe!«
    Die kleine Herde Mutterschafe war der eigentliche Grund für Jacks und Glorias Ausritt. Die Tiere hatten sich selbstständig gemacht und weideten nun in der Gegend des Steinkreises auf einem Landstück, das dem örtlichen Maori-Stamm heilig war. Gwyneira McKenzie-Warden, der die Leitung der Farm oblag, achtete die religiösen Gefühle der Ureinwohner, obwohl das Land zu Kiward Station gehörte. Es gab Weiden genug für die Schafe und Rinder, sodass die Tiere nicht auf Maori-Heiligtümern herumstreunen mussten. Deshalb hatte sie Jack beim Mittagessen gebeten, die Schafe einzutreiben, was auf Glorias lebhaften Protest stieß.
    »Das kann ich doch machen, Grandma! Nimue muss noch lernen!«
    Seit Gloria ihren ersten eigenen Hütehund trainiert hatte, drängte es sie nach größeren Aufgaben auf der Farm, sehr zur Freude Gwyneiras. Auch diesmal lächelte sie ihre Urenkelin an und nickte ihr zu.
    »In Ordnung, aber Jack wird dich begleiten«, bestimmte sie, obwohl sie selbst nicht sagen konnte, weshalb sie das Mädchen nicht allein reiten ließ. Im Grunde bestand kein Anlass zur Sorge: Gloria kannte die Farm wie ihre Westentasche, und alle Menschen auf Kiward Station kannten und liebten Gloria.
    Mit ihren eigenen Kindern war Gwyneira längst nicht so übervorsichtig gewesen. Ihre älteste Tochter Fleurette war schon als Achtjährige vier Meilen zu der kleinen Schule geritten, die Gwyneiras
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