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Berlin liegt im Osten (German Edition)

Berlin liegt im Osten (German Edition)

Titel: Berlin liegt im Osten (German Edition)
Autoren: Nellja Veremej
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1
    Die Entfernungen waren riesig, Umzüge ultimativ. Es gab keine Rückkehr in die verlassenen Orte, daher waren sie auch schnell mit Efeu und Moos überwuchert. Die Konturen und Farben schmolzen dahin, bis die Erinnerung an das Städtchen nur noch aus ein paar grauen Aufnahmen bestand: Das lange, niedrige Haus aus rauen Kopfsteinen. Mit weißem Mörtel nachgezogene, tief sitzende Fensterlider. Spärliche Blumenbeete in alten, mit Kalk geweißten Lastwagenreifen. Ein Kinderwagen, hoch und geräumig wie eine königliche Kutsche. Vaters Hand, wie sie das Motorrad an den Hörnern fasst. Es ähnelt mit seinen glatten schwarzen Körperteilen einer gigantischen Ameise. Die einst in die Linse einer
Zenit
-Kamera geratenen Details sind die einzigen Beweise, dass Kema überhaupt existiert hat. Es war eine kleine Siedlung beim Militärflughafen am Rand des endlosen, verschneiten, ehemaligen Imperiums, und für dieses Städtchen habe ich meinen ganzen Vorrat an Heimweh verbraucht. Alle anderen Orte auf meinem langen Weg habe ich leichten Herzens verlassen.
    Wie viele Kindheiten war auch meine von einem Fluss durchströmt. Unser Fluss war zahm und ruhig. Im Frühling laichten dort Lachse, und unsere Väter wurden zu Neandertalern, wenn sie die schweren und trächtigen Fische auf spitze Stöcke spießten. Im Sommer gehörte der Fluss mit seinen Wasserkäfern und Würmchen uns, den Kindern. Der erste Frost fesselte das Wasser schlagartig und überrumpelte all das kleine Flussgetier. Wir räumten einen kleinen Bildschirm vom Schneegrieß frei und schauten hinein: Der in metertiefem Eis eingemeißelte Frosch, die Beine wie im Flug vereist; ein verdutzter Fisch mit verrosteten Schuppen und rötlichen, scheinbar entzündeten Flossen; eine schwarze Schlange, die mit ihrem kleinen glatten Kopf einer bösen Frau ähnelte. In steife Filzstiefel und krause Lammmäntel eingepackt, lagen wir stundenlang auf dem Eis und versuchten mit der Wärme unserer Finger einen Tunnel zu den erstarrten Lebewesen zu bahnen. Wir träumten davon, sie berühren und wiederbeleben zu können. Es klappte nie – zu kurz waren unsere Finger, zu tief waren die Chimären in ihren Schlaf versunken. Ihre letzten Atemzüge jedoch hingen immer noch im Eis eingesperrt, und manchmal gelang es, bis zu diesen weißen Luftblasen vorzudringen.
    Dick eingemummt, stolperten wir nach Hause durch den Schnee, und dieser reichte oft bis zu den blau vereisten Fenstern. Drinnen flüsterte das Ofenfeuer, und wir saßen dann unter der Lampe und malten Raketen, aus deren winzigen Öffnungen uns unsere tapferen Väter winkten. Im wirklichen Leben flogen sie MIGs entlang der sowjetisch-japanischen Grenze, und abends tappten sie im Club um den Billardtisch – leicht betrunken, gestiefelt, und eingeschnürt in mächtiges Gurtzeug, das derb und angenehm nach neuem Leder roch. Unsere Mütter, mit babylonischen Wicklertürmen im Haar und mit hautfarbenen, dick gerillten Strümpfen an den jungen, straffen Waden, mühten sich singend rund um die Petroleumkocher in den Gemeinschaftsküchen, und sie sehnten sich aus unserem Fernen Osten nach Westen, wo man, wie sie meinten, nicht sät, nicht sichelt, nicht kränkelt und nicht stirbt. Da muss man sich nicht dutzendmal hinknien, um ein Bündel Kartoffeln aus der Erde zu gewinnen, und nicht dutzendmal die Axt über dem Kopf schwingen, um den eisernen Kanonenofen mit Holz füttern zu können – das Paradies lag immer westwärts. Und der Westen fing für uns damals schon am Fuße der verwitterten Kette des Ural-Gebirges an.

2
    Erst am Ende der Wolfsstunde, als im Osten schon ein vages Licht entfacht wird, schlafe ich ein und stehe viel später als sonst auf. Es ist heller Tag, ich schiebe die orangefarbenen Gardinen auseinander. Über meinem Haus in der Nähe des Berliner Alexanderplatzes schwebt der Fernsehturm, immer noch ein Meilenstein an der unsicher punktierten und imaginären Grenze zwischen dem Osten und dem Westen. Zwischen zwei Hemisphären? Vielleicht.
    Im Bad ist es dunkel und kühl. Die Füße frieren auf dem karierten Boden, der Griff zum Lichtschalter macht der Glühbirne den Garaus. Erschrocken durch die kleine Explosion, tappe ich durchs gekachelte Dunkle und vermeine wieder eine Botschaft aus der fernen Kindheit zu spüren, aus jenem Pionierlagermorgen, wo es nach bulgarischer Zahnpasta duftete, wo die Wasserhähne eiserne Kreuze trugen und die emaillierten Becken ihre rostigen Tränen fließen ließen. Die abgeschabten
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