Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Bancroft Strategie: Roman (German Edition)

Die Bancroft Strategie: Roman (German Edition)

Titel: Die Bancroft Strategie: Roman (German Edition)
Autoren: Robert Ludlum
Vom Netzwerk:
OSTBERLIN, 1987
    Es regnete noch nicht, aber der bleigraue Himmel würde seine Schleusen bald öffnen. Sogar die Luft wirkte erwartungsvoll, wie von banger Vorahnung erfüllt. Der junge Mann querte von Unter den Linden zum Marx-Engels-Forum, auf dem die riesigen Bronzestatuen der teutonischen Väter des Sozialismus in Richtung Stadtmitte blickten, ihre blinden Augen starr und eindringlich. Hinter ihnen war auf Steinfriesen das frohe Leben des Menschen im Kommunismus dargestellt. Noch immer kein Tropfen Regen. Aber der würde bald kommen. Binnen Kurzem würde es einen Wolkenbruch geben. Das ist eine historische Unvermeidbarkeit , dachte der Mann, indem er sich trübsinnig an den sozialistischen Jargon erinnerte. Er war ein Jäger, der seiner Beute nachspürte, und er war ihr näher als je zuvor. Deshalb war es umso wichtiger, die nervöse Spannung zu verbergen, die in ihm aufstieg.
    Er sah aus wie Millionen andere in diesem selbst ernannten Paradies der Werktätigen. Seine Kleidung stammte aus dem Centrum Warenhaus, dem riesigen Kaufhaus am Alexanderplatz. So sichtbar billig hergestellte Kleidungsstücke waren nicht überall erhältlich. Dass er wie ein einfacher Ostberliner Arbeiter aussah, war jedoch nicht nur auf seine Kleidung zurückzuführen. Das lag auch daran, wie er sich bewegte: an seinem gleichmütigen, pflichtbewussten, schleppenden Gang. Nichts an ihm verriet, dass er erst vor vierundzwanzig Stunden aus dem Westen herübergekommen war, und bis vor wenigen Augenblicken war er sich sicher gewesen, keine Aufmerksamkeit erregt zu haben.
    Ein Adrenalinschub ließ seine Haut kribbeln. Er bildete sich ein, die Schritte hinter sich schon einmal gehört zu haben, als er
die Karl-Liebknecht-Straße entlanggelatscht war. Ihr Rhythmus kam ihm bekannt vor.
    Alle Schritte waren gleich; trotzdem waren alle unterschiedlich: Es gab Variationen in Körpergröße und Schrittlänge, Variationen in Bezug auf die Schuhsohlen. Schritte sind die Solfeggien, die Tonleitern der Großstadt, hatte einer von Belknaps Ausbildern ihm erklärt: so alltäglich, dass sie gar nicht mehr wahrgenommen werden, aber für ein geübtes Ohr trotzdem so charakteristisch, dass sie wie einzelne Stimmen unterschieden werden konnten. Hatte Belknap diese Unterscheidung richtig getroffen?
    Die Möglichkeit, er könnte beschattet werden, war etwas, das er sich nicht leisten konnte. Er musste sich getäuscht haben.
    Oder er musste etwas dagegen tun.
    Bereits als junger Mitarbeiter des als Consular Operations getarnten ultrageheimen Dienstes des US-Außenministeriums hatte sich Todd Belknap damit einen Namen gemacht, dass er Männer aufspürte, die untergetaucht bleiben wollten. Wie die meisten Fährtensucher arbeitete er allein am besten. Lautete der Auftrag, einen Mann zu überwachen, war ein Team – je größer, desto besser – optimal. Aber ein Mann, der verschwunden war, ließ sich nicht unter herkömmliche Überwachung stellen. In solchen Fällen wurden sämtliche Ressourcen der Organisation in den Dienst der Fahndung gestellt; das verstand sich von selbst. Aber die Chefs von Cons Ops hatten längst die Erfahrung gemacht, dass es auch zweckmäßig sein konnte, einen einzelnen hochbegabten Feldagenten auf den Gesuchten anzusetzen. Ihm zu gestatten, die Welt allein zu durchstreifen, ohne durch ein kostspieliges Gefolge behindert zu werden. Mit der Freiheit, seinen Intuitionen, seinem Spürsinn zu folgen.
    Dem Spürsinn, der ihn – wenn alles klappte – vielleicht zu seiner Beute führen würde: einem übergelaufenen amerikanischen Agenten namens Richard Lugner. Nachdem Belknap schon Dutzende
von falschen Fährten verfolgt hatte, war er sich jetzt sicher, die richtige Witterung aufgenommen zu haben.
    Aber befand sich jemand auf seiner Fährte? Wurde jetzt dem Spürhund nachgespürt?
    Sich plötzlich umzudrehen wäre verdächtig gewesen. Stattdessen blieb er stehen, täuschte ein Gähnen vor und sah sich um, als betrachte er die riesigen Statuen, während er sich in Wirklichkeit bereithielt, jeden in seiner unmittelbaren Nähe blitzschnell einzuschätzen.
    Er sah jedoch niemanden. Einen sitzenden Marx aus Bronze, einen stehenden Engels: beide massiv, über mit Grünspan überzogenen Bärten düster dreinblickend. Zwei Reihen Lindenbäume. Eine schlecht gepflegte große Rasenfläche. Und jenseits des Platzes ein missgestalteter, lang gestreckter kupferfarbener Glaskasten: der sogenannte Palast der Republik. Der sargförmige Klotz schien dafür
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher