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Der Klang der Sehnsucht - Roman

Der Klang der Sehnsucht - Roman

Titel: Der Klang der Sehnsucht - Roman
Autoren: Insel Verlag
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nur Haut und Knochen.«
    Kapitel 2
    Von nun an schlief Kalu jede Nacht in Ganga Bas Hof. Sie wollte ihn im Auge behalten, bis der Vaid kam, um den Verband abzunehmen. »Niemand soll behaupten, ich hätte nicht meine Pflicht getan«, erklärte sie mehr als einmal.
    Jeden Morgen machte Kalu sich auf den Weg, um sich Arbeit zu suchen oder zu betteln. Zum Mittagessen kam er zurück. Nachmittags bewachte er seinen alten Schlafplatz hinter dem Laden des Panwalla, damit Jaya-shri Ben niemand anderem erlaubte, sich dort niederzulassen. Er fegte sogar umsonst den Weg für sie, um ganz sicherzugehen, dass niemand ihm seinen Platz streitig machte.
    Abends kehrte er mit Geschichten und Liedern für die Dienerschaft in Ganga Bas Hof zurück.
    Das Gelächter brachte Ganga Ba häufig dazu, ihn ins Haus zu rufen, damit er zu ihren Füßen auf dem Boden saß und ihr die Zeit vertrieb.
    Malti hielt Kalu für ein wenig eigenartig. An einem Tag war er vergnügt, am nächsten still und in sich gekehrt. Seit er sich den Fuß verletzt hatte, bewegte er sich stets gemessen. Auch jetzt, wo er den Verband trug, änderte sich daran nichts. Das blendende Weiß seines Verbands hatte sich in das satte, bald hellere, bald dunklere Braun von rohem Zucker verwandelt. Nachdem Ganga Ba Malti strengstens verboten hatte, den Verband abzunehmen und zu waschen, bekam Kalu eine große, alte Socke, um ihn zu schützen. Die Socke war braun und sah immer schmutzig aus, selbst wenn Malti sie gerade gewaschen hatte.
    Je weiter die Geschichte von Kalus Fuß die Runde machte, desto dramatischer wurden die Umstände dargestellt. Bald waren die meisten sich einig, dass der Fuß bei der Ankunft des Vaid gerade noch an einer Sehne gehangen hatte. Andere vertraten die Überzeugung, Kalu litte an einer völlig neuen Form von Elefantiasis. Manche steckten Kalu nun etwas mehr zu, wenn er seine Runde machte, andere mieden ihn und äußerten sich erstaunt oder sogar missbilligend darüber, dass Ganga Ba ihn auf ihrem Grundstück duldete.
    Endlich kehrte der Vaid zurück.
    Ganga Ba nutzte die Gelegenheit und lud jede Menge Gäste zur Großen Verbandablösungszeremonie ein. Wenn sie Kalu schon Unterschlupf in ihrem Hof gewährte, sollten es wenigstens alle wissen, vor allem die Damen. Malti musste lächeln, wenn sie an Ganga Bas erste Reaktion auf die Frage des Vaid dachte, ob er Kalu in ihrem Haus behandeln dürfe.
    Inzwischen herrschte der Eindruck, alles sei von Anfang an ihre Idee gewesen.
    Malti war den ganzen Abend mit dem Bedienen der Gäste und dem Einsammeln leerer Becher beschäftigt. Dennoch richtete
sie es so ein, dass sie sich gerade im Raum befand, als der Vaid Kalu den Verband abnahm.
    Diesmal saß Kalu auf einem Stuhl. Der Vaid hob den Fuß an und wickelte langsam den Verband ab, der die Farbe von Braun zu Cremefarben und von Cremefarben wieder zu Braun wechselte, wo die Paste ihn durchtränkt hatte.
    Malti hielt eine Schüssel mit warmem Wasser bereit, damit der Vaid den Fuß anschließend säubern konnte. Er begann an der Ferse und arbeitete sich aufwärts zum Knöchel vor.
    Kalu saß wie versteinert, als fürchte er, die geringste Bewegung könnte den Erfolg zunichtemachen. Die Stelle, an der die Wunde gewesen war, war von einer rosafarbenen, runzligen Haut aus einem dünnen Netz sich kreuzender Linien überzogen. Behutsam drehte der Vaid den Knöchel, betastete die empfindlichen Teile und ließ dann die Ferse auf seinen Fingerspitzen langsam zu Boden. Er nickte, und Kalu erhob sich. Ganz auf seine Füße konzentriert, balancierte er sacht auf einem Ballen, dann auf dem anderen, bevor er sein Gewicht gleichmäßig verteilte und fest auf beiden Füßen stand.
    »Versuch mal, ein paar Schritte zu gehen, Beta«, sagte der Vaid.
    »Ich …«
    »Setz einfach einen Fuß vor den anderen. Keine Angst, notfalls fange ich dich auf, Beta.«
    Kalu schob den verletzten Fuß einen Zentimeter vorwärts und hielt sich dabei am Tisch fest. Malti umklammerte ihre Schüssel, um sich davon abzuhalten, ihm spontan zur Hilfe zu eilen.
    Langsam verlagerte Kalu sein Gewicht auf den Fuß. Die Zuschauer jubelten und klatschten.
    Der Vaid wandte sich um. »Ganga Ba, dürften wir wohl eins von Ihren anderen Zimmern benutzen? Ich möchte wegen meines Honorars unter vier Augen mit Kalu sprechen.«
    Honorar. Kalus Fuß zitterte ein bisschen. Malti wusste, dass er
sich vor diesem Moment gefürchtet hatte. Deshalb hatte er im vergangenen Monat gearbeitet, so gut er eben konnte. Sie
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