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Die Opfer des Inzests

Die Opfer des Inzests

Titel: Die Opfer des Inzests
Autoren: Nathalie Schweighoffer
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Plädoyer brachte seinem damaligen Klienten mildernde Umstände eingebracht.
Und dabei hat er das Mandat erst spät übernommen, da ein Anwaltskollege, der
vermutlich weniger abgebrüht war als er selbst, diesen schmutzigen Fall
Schweighoffer abgelehnt hatte.
    Dreyfus hatte nicht mit der Wimper
gezuckt. Ein Fall ist ein Fall! Er brachte sein ganzes Können — und das ist
nicht unerheblich — in die Verteidigung seines Mandanten ein. Die Geschworenen
waren fasziniert. Er wirkte so einnehmend. Er war so ruhig und überzeugend.
Ohne Skrupel stellte er meine Anschuldigungen in Frage. Er vertauschte die
Rollen.
    Mein Vater sei das Opfer! Dreyfus wußte
sehr wohl, daß er schuldig war. Aber das kümmerte ihn nicht. Dieser Rechtsprofi
leistete ganze Arbeit, damit die Strafe seines Mandanten möglichst milde
ausfiel.
    Er wird mir wieder gegenüberstehen.
Unbewegt. Im gleichen Lager wie vor vier Jahren: dem der Ungeheuer.
    Nur mein Vater wird fehlen. Aber ich
weiß, daß auch er sehr präsent sein wird. Er wird überall sein, in meinem Kopf,
in meinen Eingeweiden.
    Es wird alles von vom anfangen: Ich
werde die dunklen Jahre niemals abschütteln können.
    Das ist der Preis dafür, daß ich der
verabscheuungswürdigsten Bestie den Krieg erklärt habe: dem Inzest.
     
     
    9 Uhr 30: Im Gerichtssaal
     
    Der Vorsitzende, zwei Beisitzer — Frauen
— , der Staatsanwalt und ein Gerichtsschreiber nehmen mit raschelnden Roben
Platz. Dann treten die Geschworenen ein: fünf Männer, vier Frauen und eine
Ersatzgeschworene. Nichtssagende Gesichter, ein Bärtiger, eine Frau mit sehr
blonden Haaren, eine zweite mit Puppengesicht... Heute haben sie ihre Familie,
ihre Arbeit, ihre kleinen oder großen Sorgen zurückgestellt, um Recht zu
sprechen. Wer sind sie? Was werden sie von dem begreifen, was sich in diesem
Saal abspielen wird? Sie leisten ihren Eid. Was denken sie, während sie die
vorgefaßten Sätze nachsprechen?
    Annie, in Jeans und blauem Pullover,
hält sich sehr gerade zwischen ihrem Vater und ihrem Verlobten Renaud. Auf
derselben Bank sitzen außerdem zwei ihrer Freundinnen und der Neffe des
Angeklagten, die alle für sie aussagen werden.
    Gegenüber, die Verteidigung. Annies
Mutter ist auch dort. Ein Eisblock. Sie ist gekommen, ihre Tochter zu
beschuldigen, und würdigt uns keines Blickes. Vier Personen sitzen bei ihr.
Selbstverständlich Rechtsanwalt Dreyfus. Er wird Alain Mozère verteidigen,
einen untersetzten dunkelhaarigen Mann, schmächtig, zusammengesunken. Den Blick
gesenkt und die Hände gefaltet, scheint er seinen Lebenslauf, der vom
Vorsitzenden vorgetragen wird, gar nicht zu hören:
    »Ihr Vater war Metallarbeiter in einer
Farbenfabrik. Er ist 1988 durch Krankheit verstorben. Ihre Mutter, 68 Jahre,
ist pensionierte Arbeiterin. Sie hat ihr ganzes Leben Schuhe angefertigt. Sie
sind der jüngste von drei Geschwistern. Sie wurden als Nesthäkchen von allen
verwöhnt. War Ihnen das bewußt?«
    Ja, das sei ihm bewußt gewesen. Nein,
er habe keine speziellen Probleme gehabt. Die häusliche Atmosphäre? Schlicht,
bescheiden und gut. Schwierigkeiten hatte er nur in der Schule. Schwierigkeiten
zu lernen, dem Unterricht zu folgen, sich zu konzentrieren. Also nahm er mit
einem einfachen Abschluß als Allgemeinmechaniker in der Tasche eine Arbeit in
einer Werkstatt und später in der Wäscherei des Krankenhauses von
Saint-Laurent-du-Pont an.
    Dort lernte er auch 1976 Martine Lucas
kennen, Annies Mutter. Er war 24 und hatte vor ihr erst eine Beziehung gehabt.
    1979 heirateten sie. Annie war fast
acht. Im Jahr darauf wurde ein kleiner Bruder geboren. Kurze Zeit später
beschloß Martine, nachts zu arbeiten. Mozère fiel es sehr schwer, dies zu
akzeptieren. Es kam zu Spannungen.
    »Wie war Ihr Verhältnis zu Annie?«
fragt der Vorsitzende.
    »Anfangs wollte ich ihr gegenüber die
Vaterrolle übernehmen«, antwortet Mozère mit zögernder, schüchterner Stimme.
»Aber als ich sie eines Tages wegen einer Dummheit bestrafen wollte, hat meine
Frau es mir verboten. Sie warf mir vor, ich wolle mich mit Annies Vater
identifizieren. Sie sagte, da Annie ihren Vater regelmäßig sehe, würde sie
meine Autorität nicht brauchen. Also begann ich, mich ihr gegenüber eher wie
ein Kumpel zu fühlen, wie ein Komplize, da ihre Mutter sehr streng zu ihr war,
und ich nahm sie ein wenig in Schutz. Als sie dann älter wurde, begann ich,
mich ihr anzuvertrauen. Annie war da und hörte mir zu. Nach und nach nahm sie
in meinem Herzen den Platz ihrer
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