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Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman
Autoren: Amitav Ghosh
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ERSTES KAPITEL
    D as Bild eines stolzen Schiffes unter vollen Segeln auf hoher See trat Diti an einem ganz gewöhnlichen Tag vor Augen, aber sie wusste sofort, dass die Vision ein Fingerzeig des Schicksals war, denn sie hatte ein solches Schiff noch nie zuvor gesehen, nicht einmal im Traum. Wie auch, da sie doch im nördlichen Bihar lebte, vierhundert Meilen von der Küste entfernt? Ihr Dorf lag so weit im Landesinneren, dass das Meer so fern schien wie die Unterwelt: Es war der Abgrund der Finsternis, wo der heilige Ganges im kālā-pānī verschwand, im »Schwarzen Wasser«.
    Es geschah am Ende des Winters, in einem Jahr, in dem die Mohnpflanzen merkwürdig lange zögerten, ihre Blütenblätter abzuwerfen: Meilenweit schien der Ganges, von Benares abwärts, zwischen zwei Gletschern dahinzufließen, denn seine Ufer waren mit dicken Teppichen weiß blühender Blumen bedeckt. Es war, als hätten sich die Schneemassen des Himalaja über die Ebenen gebreitet, um auf das Holi-Fest mit seinen üppigen Frühlingsfarben zu warten.
    Das Dorf, in dem Diti lebte, lag unweit der Stadt Ghazipur, ungefähr fünfzig Meilen östlich von Benares. Wie alle ihre Nachbarn war Diti besorgt wegen der verspäteten Mohnernte. An dem bewussten Tag stand sie früh auf und erledigte mechanisch ihre täglichen Pflichten, legte für Hukam Singh, ihren Mann, frisch gewaschene Kleidung zurecht, einen Dhoti und eine kamīz , und stellte das eingelegte Gemüse und die
rotīs bereit, die er zu Mittag essen würde. Als sie sein Essen eingepackt hatte, legte sie eine Pause ein, um rasch in ihren Schrein zu gehen. Später, wenn sie gebadet und sich umgezogen hatte, würde sie ihre pūjā verrichten, mit Blumen und Opfergaben; jetzt aber, noch im Nachtsari, trat sie nur unter die Tür und legte kurz die Hände aneinander.
    Schon bald kündigte ein quietschendes Rad den Ochsenkarren an, der Hukam Singh in die Fabrik im drei Meilen entfernten Ghazipur bringen würde. Kein weiter Weg, aber doch so weit, dass Hukam Singh ihn nicht zu Fuß zurücklegen konnte, denn er war als Sepoy in einem britischen Regiment am Bein verwundet worden. Die Behinderung war jedoch nicht so schwer, dass er Krücken gebraucht hätte – er konnte ohne Hilfe bis zu dem Karren gehen. Diti, die ihm mit einem Schritt Abstand folgte, trug ihm in einem Tuch sein Essen und sein Wasser nach und händigte ihm das Päckchen aus, als er auf den Karren gestiegen war.
    Kalua, der Fahrer des Ochsenkarrens, war ein Hüne, machte aber keine Anstalten, seinem Fahrgast zu helfen, und achtete darauf, sein Gesicht vor ihm zu verbergen: Er war Chamar, und für Hukam Singh als Angehörigem der hohen Rajput-Kaste wäre der Anblick seines Gesichts ein böses Omen für den bevorstehenden Tag gewesen. Nachdem er auf den Karren geklettert war, saß der frühere Sepoy nun mit dem Rücken zu Kalua und hielt sein Bündel auf dem Schoß, damit es nicht mit irgendwelchen Gegenständen des Fahrers in Berührung kam. So saßen sie, Fahrer und Fahrgast, während der Karren über die Straße nach Ghazipur rumpelte – in freundschaftlichem Gespräch zwar, doch ohne sich auch nur einmal anzusehen.
    Auch Diti verbarg sorgsam ihr Gesicht vor Kalua; erst als sie wieder ins Haus ging, um Kabutri, ihre sechsjährige Tochter,
zu wecken, ließ sie es zu, dass der ghūngat ihres Saris ihr vom Kopf rutschte. Kabutri lag zusammengerollt auf ihrer Matte, und Diti erkannte an ihrem rasch wechselnden Gesichtsausdruck – bald schmollte, bald lächelte sie –, dass sie tief in einem Traum befangen war. Sie wollte sie schon wecken, doch dann hielt sie inne und trat zurück. Im Gesicht ihrer schlafenden Tochter entdeckte sie die Konturen ihrer eigenen Züge – die gleichen vollen Lippen, die gleiche rundliche Nase, das gleiche vorspringende Kinn –, nur waren die Linien bei dem Kind noch klar und scharf, während sie bei ihr mit der Zeit undeutlich geworden waren, gleichsam verwischt. Nach sieben Jahren Ehe war Diti selbst noch kaum mehr als ein Kind, auch wenn sich in ihrem dichten schwarzen Haar schon ein paar weiße Fäden zeigten. Ihre Gesichtshaut, von der Sonne ausgedörrt und gedunkelt, wurde um Mundwinkel und Augen herum bereits schuppig und rissig. Doch bei allen Sorgenfalten und aller Unscheinbarkeit ihres Äußeren hob sie sich doch in einem vom Alltäglichen ab: Sie hatte hellgraue Augen, was in diesem Teil des Landes ungewöhnlich war. Die Farbe – oder die Farblosigkeit – ihrer Augen bewirkte, dass man sie
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