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Die Opfer des Inzests

Die Opfer des Inzests

Titel: Die Opfer des Inzests
Autoren: Nathalie Schweighoffer
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habe. Gleich werde ich ihn
zusammen mit Annie erneut betreten, weil ich es ihr versprochen habe.
    Annie ist so etwas wie mein Double,
unausweichlich und schmerzlich. Als sie mich anrief, wußte ich gleich, daß ich
ihr helfen würde. Aber die Erinnerungen, die sie Wiederaufleben ließ, rissen
einen bodenlosen Abgrund der Angst vor mir auf.
    Wie ich lebte Annie in
Saint-Laurent-du-Pont, diesem kleinen Bergdorf, in dem sich Tratsch und
Gerüchte rasch verbreiten, von Haus zu Haus, zur Unterhaltung der gelangweilten
Bewohner.
    Annie ist 23 Jahre alt und
Krankenpflegehelferin. Es kostete sie großen Mut, vor einigen Monaten die
Gendarmerie von Saint-Laurent-du-Pont aufzusuchen und ihren Stiefvater, den
zweiten Ehemann ihrer Mutter, wegen sexueller Nötigung im elterlichen Haus
anzuzeigen.
    Natürlich gab es auf dem Revier keine
Beamtin, die die Anzeige hätte aufnehmen können. Annie war fest entschlossen,
aber das Erlebte Männern vorzutragen, die auf solche Fälle wenig vorbereitet
waren, erschwerte ihr diesen Schritt noch zusätzlich. Unbehagen auch bei den
braven Beamten. Wie sollten sie in der Anzeige Einzelheiten festhalten, die zur
Verhaftung eines Mannes führen konnten, der in der ganzen Gegend als ehrenhafte
Persönlichkeit galt?
    Aber Annie ließ sich nicht beirren.
    Polizeiliche Ermittlungen wurden
eingeleitet. Die Neuigkeit verbreitete sich wie ein Lauffeuer im ganzen Dorf.
Und Annie war es, die verurteilt wurde. Sie wurde von ihrem Dorf für schuldig
befunden. Wie konnte sie es wagen, den Ruf eines angesehenen Bürgers in den
Schmutz zu ziehen? Wie konnte sie ihrer Mutter diese Schande, dieses Leid
antun? Ah! Es wäre allen nur recht gewesen, wenn Lügen und Schweigen diese
abscheuliche Tat weiter verhüllt hätten. Schlimmer noch. Annies Mutter wandte
sich von dem jungen Mädchen ab und brach jeden Kontakt ab.
    Und das ist der Grund, weshalb ich
heute Annie in ihre letzte Schlacht begleite. Ich hatte in meinem Unglück noch
das Glück, daß mir eine wunderbare Mutter zur Seite stand, und ich habe nicht
das Recht, dies zu vergessen.
    Eigentlich habe ich Annie erst gestern
abend persönlich kennengelernt, in dem Apartment, das sie seit einigen Monaten
mit ihrem Freund bewohnt. Bis dahin hatten wir nur häufig telefoniert,
Gespräche, die mich jedesmal tief aufwühlten. Es war ein herber Schock für
mich, als ich ihr schließlich gegenüberstand. Ihr angespanntes, von Streß
gezeichnetes Gesicht war wie ein Spiegel für mich. So hatte ich selbst einige
Jahre zuvor ausgesehen!
    Ich sprach mit ihr über den Prozeß, der
am nächsten Tag stattfinden würde. Hörte sie mir zu? Sie hätte am liebsten
geweint und getobt. In wenigen Stunden würde sie den Mann wiedersehen, der ihr
Leben zerstört hatte.
    Und am schlimmsten war vielleicht, daß
ihre eigene Mutter sich von ihr abgewandt hatte.
    Bevor ich sie verließ, bat ich meine
neue Freundin um etwas. Zweifellos eine egoistische Bitte, denn ich erwartete
von ihr, meine eigene Rache zu vollziehen.
    »Du wirst im Zeugenstand nur wenige
Minuten zu Wort kommen, Annie. Ich möchte, daß du sprichst, daß du den Mut hast
zu beschreiben, was dir widerfahren ist. Ich konnte es nicht. Ich habe nur
geweint und keinen Ton herausgebracht. Natürlich haben meine Tränen und mein
Schweigen für sich gesprochen. Trotzdem: Ich habe meine Chance vertan,
herauszuschreien, daß ich Höllenqualen gelitten und mir Abscheuliches angetan
wurde. Mein Anwalt hat das für mich getan. Aber es waren nicht meine Worte,
nicht mein Schmerz oder meine Schreie. Die sind immer noch in meinem Inneren
gefangen und zerreißen mich. Ich hatte Angst vor meinem Vater. Ständig diese
gräßliche Angst, die mich stumm machte. Mach es nicht wie ich, Annie. Rede!
Bleib ruhig und beschreibe deinen Leidensweg so präzise und detailliert wie
möglich. Die Menschen glauben immer noch nicht, daß es so etwas gibt, weißt du!
Sie müssen es erfahren. Sag ihnen alles. Das ist unabdingbar, wenn deine Wunden
heilen sollen. Ich mache mir fast täglich Vorwürfe, daß ich so feige war.
Morgen wirst du dort stehen, wo ich vor drei Jahren gestanden habe. Sei stark!«
    Auch ich muß stark sein. Dieser Prozeß,
das ist mein Prozeß, der sich wiederholt. Zumal Annie mir einige
Sekunden vor Beginn der Verhandlung etwas mitteilt, das mir das Blut in den
Adern gefrieren läßt: Rechtsanwalt Dreyfus wird ihren Stiefvater verteidigen.
Dreyfus! Ausgerechnet der Anwalt, der auch meinen Vater verteidigt hatte. Sein
brillantes
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