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Hikikomori

Hikikomori

Titel: Hikikomori
Autoren: Kevin Kuhn
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noch einen Schluck. »Dann haben wir uns alle getäuscht. Ich meine, im positiven Sinne.«
    »Und du?«, fragt Kim.
    »Architektur.«
    »Klassisch.«
    »Der Jan bleibt real , auf den Jan ist Verlass.« Er grinst.
    »Und wozu?«
    »Das führt jetzt zu weit, ich meine, ich frage dich ja auch nicht, warum du Psychologie studierst.«
    »Noch arbeite ich ja in einer Lebkuchenfabrik. Und ich kann dir genau sagen, warum.«
    »Okay.« Er überlegt. »Also. Alles, was einen umgibt, das sind Räume. Ja?«
    »Einverstanden.«
    »Und es macht doch einen Unterschied, wie die beschaffen sind, ich meine, wie diese Beschaffenheit sich auf die Menschen auswirkt. Ja?«
    »Kann ich mir vorstellen.«
    »Ich meine, nur so als Beispiel, stell dir mal vor, welcher Mensch du geworden wärst, wenn du in einem Schloss aufgewachsen wärst. Ich will damit jetzt nicht sagen, dass es, so wie du aufgewachsen bist, schlechter sein soll oder so. Nur dass die Räume einen Einfluss auf die Entwicklung des Menschen haben. Manche eben fördern, andere eher hemmen.«
    »Das kommt nicht von dir.«
    »Und deswegen werde ich Architekt.«
    »Das kommt nicht von dir!«
    »Doch.«
    »Umso besser, wenn du das glaubst.«
    Auf den Mülltonnen tanzen indessen so viele Menschen, dass an den Seiten in regelmäßigen Abständen mehrere in die Menge fallen und neue hinaufklettern können. Nachdem Jan eine Weile sichtlich nachgedacht hat, greift er entschlossen hinter sich nach Kims Arm, sagt: »Komm!«, und bahnt sich seinen Weg in Richtung Eingang. Kim folgt dicht hinter ihm. Um den Eingang eine Menschentraube. Die Tür geschlossen, ein Klopfen und Schlagen dagegen, dazu Sprechchöre, die in unbestimmten Abständen an- und abschwellen: »Ann! Ann! Ann!« Sie gehen vorbei an dem fast schon vollständig verblassten TillTeg vor die großen Fenster der Bäckerei. Die Theke ist leer geräumt, die Brot- und Gebäckkörbe warten darauf, wieder gefüllt zu werden, es scheint, als sei von der Bäckerei bloß das Skelett übrig geblieben, dem alles Fleisch vom Körper gefallen ist. Im fahlen Schein des Lichts aus der Backstube steht Frau Tretter dicht am Fenster. Ihre Augen sind geweitet, ihr fülliger Körper wirkt wie in Schockstarre versetzt.
    Kim an der Hand stellt sich Jan in ihre Sicht. Eine Weile bleibt sie in ihrer Haltung, zwickt dann die Augen zusammen. Jan winkt, sie schaut verwundert, tritt einen halben Schritt zurück, als sähe sie einen lange Verschollenen. Jan macht mit der Hand eine Drehbewegung, sie klopft sich auf die weiten Taschen ihres weißen Bäckerumhangs, zieht den Schlüssel hervor, signalisiert den beiden, aufzupassen, dass sie ja keinen mit sich hineinlassen, und öffnet die Tür einen Spalt. Unter dem Geräusch des Windspiels, das sonst einen neuen Kunden meldet, quetscht sich erst Kim, dann Jan durch die Tür. Ein Geruch nach Puderzucker, Croissant und Kindheit umhüllt sie. Die Bäckersfrau zieht die Tür hastig zu, dann dreht sie den Schlüssel zweimal im Schloss herum.
    Lange umarmt sie Jan, ihr Umhang ist vor Aufregung feucht-warm geschwitzt, ihre Brust bebt. Auch Kim hält sie lange in den Armen. »Bin ich froh, euch hierzuhaben.« Sie wischt sich Schweiß von der Stirn. »Der Jan, wer hätte das gedacht! Der Jan und die kleine Freundin von Till, nicht wahr?« Kim schüttelt den Kopf, Jan nickt. »Bin ich erleichtert – bei den ganzen Wahnsinnigen!« Drei junge Männer haben sich der Scheibe genähert, versuchen durch Klopfen und Grimassenschneiden auf sich aufmerksam zu machen. »Die müssen doch langsam einschreiten, nicht? Ich meine, die Polizei, für was bezahlt man die sonst?«
    »Keine Sorge«, sagt Jan und berührt ihren Arm. »Ist gleich vorbei.«
    »Danke«, sagt Frau Tretter. Einen der jungen Männer drücken die anderen beiden nun an die Scheibe und tun so, als penetrierten sie ihn von hinten. Das Stöhnen ist unüberhörbar. Der Schrecken kehrt in ihr Gesicht zurück. »Es geht dem Ende zu, nicht? Wie sie uns immer gewarnt haben. Der ganze Morast kippt auf die Straße, schau dir die Affen doch mal an! Die ganze verkorkste Jugend ist nicht mehr zu halten, der Mob, ja! Erst schlagen sie sich gegenseitig, dann gehen sie auf die friedlichen Bürger los, verschandeln deren Fassaden, setzen unsere Autos in Brand, reißen die gepflasterten Straßen auf, zünden Häuser an, plündern die Geschäfte, nicht?«
    »Nein, Frau Tretter«, sagt Jan. »Das ist nur ein blöder Jungenstreich. Heutzutage trifft man sich auf diese Art und
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