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Hikikomori

Hikikomori

Titel: Hikikomori
Autoren: Kevin Kuhn
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nach unten hängenden Arm.
    »Was filmen Sie da?« Kim zeigt auf seinen Arm.
    »Ich weiß es nicht«, sagt er, »vielleicht einen besonderen Moment.«
    »Und das ist noch nichts Besonderes, die vielen Leute?«
    »Das spricht sich schnell herum.«
    »Was spricht sich schnell herum?«
    »Na, so was heutzutage übers Internet.« Er funkelt sie an. »Einer stellt etwas rein, drei andere nehmen das auf, verbreiten das an neun Weitere, von den neun erfahren es 27, bis es viral durch die Decke geht.« Als wäre das ihr Stichwort gewesen, zischt eine vor ihnen entzündete Rakete in den Himmel und regnet als ein Feuerschauer wieder herunter. »Und schon sind Tausende hier und reißen die Bude ein.«
    »Haben Sie noch eine für mich?«
    »Klar.« Er streckt ihr die Schachtel hin. Sie rauchen.
    Bereits an seinem Gang erkennt sie ihn. Er ist braun gebrannt, um einige Zentimeter größer als zuvor, der Bartansatz lässt ihn verwegen erscheinen. Auffällig sind seine blond-braunen Locken, die er lange nicht mehr geschnitten zu haben scheint und die wie ein Afro sein Gesicht umkränzen. Die Leute drehen sich nach ihm um, wenn sie ihn bemerken.
    »Kim!«, sagt er freudig und umarmt sie. »Ewig nicht mehr gesehen.« Dann wendet er sich dem Herrn zu, streckt ihm die Hand hin: »Jan.«
    »Karl.«
    Kim schüttelt kichernd den Kopf.
    »Was ist los? Kennt ihr euch?«
    »Ich weiß nicht«, sagt Kim. »Es ist alles so abstrus hier. Da lässt man ihn mal ein paar Tage in Ruhe, und dann das!« Sie zeigt um sich, grinst, schüttelt den Kopf.
    Karl hört gespannt zu, bietet Jan eine Zigarette an, der dankend ablehnt, seine eigene Schachtel zückt. Mittlerweile sind weitere Jugendliche auf Tretters Mülltonnen gestiegen. Vom Popperbrunnen her blinkt Blaulicht.
    »Das glaubst du nicht, was da oben aus dem Popperbrunnen säuft.« Jan zieht an der Zigarette, pustet den Rauch in die Nacht. »Pferde! Eine Reiterstaffel um den Brunnen herum. Sieben mannshohe Dinger, die mir bis über den Kopf reichen, mit den Hufen stampfen. Wenn du dich ihnen näherst, merkst du, dass sie echt heiß darauf sind, zum Einsatz zu kommen. Und auf ihnen Polizisten in Reiterstiefeln, gepanzerten Uniformen, mit Visierhelmen geschützt wie auf einer Festung.«
    »Ist der nicht wieder abgedeckt?«
    »Bei dem lauen Winter wohl nicht nötig.«
    Der Abstand zwischen den einzelnen Raketen- und Böllerschüssen wird immer geringer. Bald werden die Farbexplosionen ununterscheidbar ineinander übergehen.
    »Und nun?«, sagt Kim. »Wollen wir rein?«
    »Wir sind nicht die Einzigen. Ich glaube, wir sind chancenlos. Da wird keiner aufmachen.« Jan zückt sein Smartphone. »Ich ruf ihn an.« Er wählt, hält sich das Telefon fest ans Ohr, das andere hält er sich mit dem Finger zu. »Diese Rufnummer ist nicht vergeben«, ahmt er die Ansagestimme nach, »hast du eine aktuelle?«
    Kim schüttelt den Kopf: »Er wollte nicht, dass ich anrufe.«
    »Ich war ja weg«, sagt Jan. »Wie soll ich da seine aktuelle Nummer haben?«
    Kim nickt. »Habe ich gehört.«
    »Da denkt man nicht an so etwas.«
    »An was?«
    »An so etwas halt.« Er steckt sich erneut eine Zigarette an. »Ich kaufe mir jetzt ein Bier. Wollt ihr auch eins?«
    Kim schüttelt abermals den Kopf, Karl nickt. Während Jan sich seinen Weg durch die Menge bahnt, neu eintreffende Jugendliche mit Bierkästen abfängt, dehnt sich auch das Kerzenmeer beinahe unmerklich, aber doch schrittweise immer weiter aus. Jan öffnet die Bierflaschen und reicht Karl eine.
    »Und was machst du so?«, fragt Jan Kim.
    »Fragt man das jetzt?«
    »Was sollen wir sonst machen?«
    »Anna-Marie anrufen. Zum Beispiel.«
    »Vergiss es. Die geht nicht ran.«
    »Gut.«
    »Was, gut?«
    »Ich arbeite in einer Lebkuchenfabrik.«
    »Du verarschst mich jetzt.«
    »Bis mein Notendurchschnitt gut genug ist, um zu studieren.«
    »Warum sollten sie dich nicht haben wollen, du warst doch immer die Begabteste. Mit Kunst meine ich.«
    »Ich habe nicht vor, Kunst zu studieren. Wer sagt das?«
    »T ill meinte das.«
    »Wann hast du das letzte Mal mit ihm gesprochen?«
    »Muss eine Weile her sein.« Er trinkt einen großen Schluck, wischt sich den Mund ab. »Für ihn bist und bleibst du die größte Künstlerin aller Zeiten.«
    »Weil ich drei Bilder gemalt habe?«
    »Das zählt nicht, würde er sagen.«
    »Das hat er von seinen Eltern, die haben ihm das eingeimpft.« Sie schüttelt wieder den Kopf. »Nein, Psychologie, das hättest du bestimmt nicht gedacht.«
    Er trinkt
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