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Hikikomori

Hikikomori

Titel: Hikikomori
Autoren: Kevin Kuhn
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Mädchen.
    Anna-Marie schaut ihn enttäuscht an.
    »Was ist?«, sagt Oskar.
    »Du weißt doch, Mäntel krieg ich auch so, das ist doch nichts Besonderes.«
    »Zieh ihn doch erst mal an«, mischt sich Karola ein.
    »Okay, gut.« Sie streift sich den Mantel über ihre schmalen Glieder. Er passt ihr wie angegossen, sie posiert in der Spiegelung des Fensters. Till findet, sie würde sich mit diesem Mantel prächtig als Marinekrankenschwester machen.
    »Schwesterchen«, flüstert Till.
    Obwohl er sehr leise spricht, hören ihn alle.
    »Der sieht originell aus«, sagt Anna-Marie.
    »Den hat nicht jeder.« Karola zwinkert hinter ihrem Rücken Oskar zu. »Vor allem nicht so ein Innenfutter.«
    Anna-Marie zieht den Mantel aus, begutachtet das pinkfarbene Innenfutter, in das ein Stück Stoff mit einem Gutschein eingenäht ist. »Hast du das gemacht?«
    Karola schüttelt den Kopf: »Das haben wir uns zusammen ausgedacht.«
    Till windet sich so, dass auch er einen Blick auf den Inhalt erhaschen kann. Die Schwester schirmt sich vor ihm ab, als müsse sie sich vor einem lästigen Abschreiber schützen.
    »Wow!« Anna-Marie fällt erst Oskar, dann Karola um den Hals. »Eine Silvesterparty!« Sie liest aus dem Mantel vor: »Dich und deine acht besten Freundinnen bringt die Lincoln Stretchlimousine zu deiner eigenen Homeparty! Champus on board werdet ihr drei Stunden durch die Stadt chauffiert – sehen und gesehen werden! Zurück am Gig wird die Party bereits in vollem Gange sein! Achzig Leute werden dich und deine Freundinnen erwarten, ein Butler euch in Empfang nehmen, ein DJ fette Beats auflegen – die Party kann starten!«
    »Das ist schon jetzt das beste Weihnachten aller Zeiten!« Anna-Marie küsst die Eltern überschwänglich auf die Wangen. »Das muss ich gleich Lilli und Mia erzählen! Darf ich?«
    »Nur zu.«
    Anna-Marie zückt ihr Smartphone, wählt, redet, läuft dabei kreuz und quer im Wohnbereich herum.
    »Lilli und wer?«
    Oskar zuckt mit den Schultern.
    Vor dem Abendessen hat das Fest seinen Höhepunkt bereits überschritten. Die übrigen Geschenke sind schnell verteilt. Ein Siebentagetrip für die Eltern auf die Kanaren, Vulkanbesteigung und pittoreske Fischerdörfchen, um eine sturmfreie Wohnung zu garantieren. Karola schenkt ihrem Mann noch ein Pfeifenset, das aus Acrylmundstücken, Stopfwerkzeug und Putzstäbchen besteht. Sie lässt sich eine schlichte Halskette aus Bernstein umhängen. Für die Tochter gibt es noch weitere Accessoires, den neuesten E-Reader, den Prometheus LernAtlas der Anatomie vorinstalliert. Till steht wie angewurzelt da, schaut, ob vielleicht auch ein Geschenk an ihn adressiert ist.
    Vom Rehbraten steigt eine Dampfsäule auf. Sie haben sich an die Tafel gesetzt. Oskar und Karola sitzen an den Tischenden, Anna-Marie gegenüber Tills altem Platz. Als sie sich die Hand reichen und sich ein frohes Weihnachtsessen wünschen, Till danebensteht und nicht in den Kreis aufgenommen wird, schwankt er, den Kopf gesenkt, in sein Zimmer zurück.
    »Was war denn das?«
    »Hm.«
    »In ein, zwei Wochen ist er der Alte.«
    »Ja?«
    »Das ist die letzte Tiefphase. – Jetzt wird er wissen, dass er sich anstrengen muss, um wieder ein Teil der Familie zu werden.«
    »Hoffen wir mal.«
    Oskar tranchiert das Fleisch. Karola reicht Weißbrot herum, gibt jedem aus der Keramikschüssel je einen Klecks Kartoffelpüree. Als Letztes tut sich Oskar selbst ein Stück auf, hebt das Glas. Sie prosten sich zu und nehmen kleine Schlucke aus ihren Rotweingläsern. Schweigend kosten sie das Fleisch.

18
    Kopfsteinpflaster. Rund um den Popperbrunnen eine Szenerie wie ein nächtliches Straßenfest: eine Menschenansammlung, in Grüppchen verstreut vor dem Eingang des Tegetmeyer’schen Hauses, viele in der Schlange vor dem Dönerstand, manche haben Boxen an ihre mobilen Geräte angeschlossen und vor sich auf die Pflastersteine gestellt, volle Lautstärke. Es wird viel getrunken, Weißwein oder Sekt von den Mädchen, vornehmlich Bier von den Jungs. Es müssen Hunderte sein. Zwei schleppen einen Bierkasten herbei, sind sogleich von einer durstigen Meute umringt, die schnell in den Gesäßtaschen nach den Geldbeuteln greift. Ein Mädchen in Minirock und Neon-Leggings klettert auf eine der großen Mülltonnen vor der Bäckerei Tretter, in deren Backstube noch Licht brennt. Zu einem monotonen Beat reckt sie den rechten Arm in die Luft. Jungs pfeifen und spornen sie weiter an, sie macht eine Hüfkreisbewegung, geht in die Knie, ein
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