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Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes (German Edition)

Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes (German Edition)

Titel: Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes (German Edition)
Autoren: Ted Chiang
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Der Turmbau zu Babel
     
    Läge der Turm der Länge nach auf der Ebene von Shinar, würde man zu Fuß von einem Ende zum anderen zwei Tagesreisen benötigen. Doch da der Turm aufrecht steht, dauert es einen ganzen Monat, um von seinem Sockel bis zur Spitze emporzusteigen – wenn man denn nichts tragen musste. Aber nur wenige Menschen besteigen den Turm mit leeren Händen; das Tempo der meisten wird von Karren mit Steinen bestimmt, die sie hinter sich herziehen. Vier Monate vergehen zwischen dem Tag, an dem die Ziegel auf die Karren verladen werden, und dem Tag, an dem sie abgeladen werden, um ein Teil des Turmes zu werden.
     
    Hillalum hatte sein ganzes Leben in Elam verbracht, und Babylon war ihm lediglich als Abnehmer von elamischem Kupfer bekannt. Die Kupferbarren wurden auf Booten transportiert, den Karun hinab zum Golf des Dscham und dann den Euphrat hinauf. Hillalum und die anderen Bergarbeiter reisten über Land, zusammen mit einer Handelskarawane schwer beladener Onager. Sie folgten einem staubigen Pfad, der von der Hochebene hinabführte und über die Steinwüste zu den grünen Feldern, die von Kanälen und Dämmen unterteilt waren.
    Keiner von ihnen hatte den Turm jemals gesehen. Er wurde sichtbar, als sie noch viele Wegstunden von ihm entfernt waren: eine Linie so dünn wie eine Flachsfaser, die in der schimmernden Luft zitterte und sich aus der Lehmkruste Babylons erhob. Während sie sich näherten, wuchs die Kruste zu mächtigen Stadtmauern empor, doch alles, was sie sahen, war der Turm. Als sie den Blick schließlich auf die Flussebene senkten, bemerkten sie die Spuren, die der Turm außerhalb der Stadt hinterlassen hatte: Der Euphrat floss am Grunde eines weiten, tief liegenden Bettes, das zur Gewinnung von Lehm für Ziegel ausgehoben worden war. Südlich der Stadt waren Reihe um Reihe von Brennöfen zu erkennen, die nicht mehr brannten.
    Während sie sich den Stadttoren näherten, erschien der Turm gewaltiger als alles, was Hillalum sich je vorgestellt hatte: eine einzelne Säule, deren Umfang so groß sein musste wie ein ganzer Tempel, und die dennoch so hoch aufragte, dass sie sich in der Ferne verlor. Sie alle gingen mit in den Nacken gelegtem Kopf und blinzelten in die Sonne.
    Hillalums Freund Nanni stieß ihn, von Ehrfurcht ergriffen, mit den Ellenbogen an. »Da sollen wir hinauf? Bis zur Spitze?«
    »Nach oben klettern, um zu graben. Das scheint mir ... unnatürlich.«
    Die Bergarbeiter erreichten das Haupttor in der westlichen Mauer gerade in dem Moment, als eine andere Karawane die Stadt verließ. Während sie sich in den schmalen Schattenstreifen drängten, den die Mauer warf, rief Beli, ihr Vorarbeiter, den auf den Wachtürmen stehenden Bewaffneten zu: »Wir sind die Bergarbeiter, die aus dem Lande Elam gerufen wurden.«
    Die Torwächter waren sichtlich erfreut. Einer rief zurück: »Seid ihr diejenigen, die sich durch das Himmelsgewölbe graben sollen?«
    »Das sind wir.«
     
    Die ganze Stadt feierte. Begonnen hatte das Fest vor acht Tagen, als die letzten Ziegel auf den Weg geschickt worden waren, und es würde noch zwei Tage währen. Tag und Nacht jubelte die Stadt, tanzte und schmauste.
    Die Ziegelbrenner schlossen sich den Karrenziehern an – Männer, die so oft auf den Turm gestiegen waren, dass sie Beinmuskeln so dick wie kleine Baumstämme hatten. Jeden Morgen machte sich ein Trupp auf den Weg nach oben; vier Tage stiegen sie hinauf, übergaben ihre Ladung der nächsten Kolonne und kehrten am fünften Tag mit leeren Karren in die Stadt zurück. Eine Kette solcher Gruppen reichte bis zur Spitze des Turmes, doch nur die unterste Mannschaft feierte zusammen mit der Stadt. Jenen, die auf dem Turm lebten, war zuvor genug Wein und Fleisch gebracht worden, damit das Fest sich die gesamte Säule hinauf erstrecken konnte.
    Am Abend saßen Hillalum und die anderen Bergarbeiter aus Elam auf Tonstühlen an einer langen Tafel voller Essen – einer Tafel unter vielen, die über den ganzen Marktplatz verteilt waren. Die Bergarbeiter unterhielten sich mit den Karrenziehern und stellten Fragen über den Turm.
    »Jemand hat mit erzählt«, sagte Nanni, »dass die Maurer, die an der Spitze des Turmes arbeiten, jammern und sich die Haare raufen, wenn sie einen Stein fallen lassen, denn es dauert vier Monate, um ihn zu ersetzen. Aber niemanden kümmert es, wenn ein Mensch in den Tod stürzt. Stimmt das?«
    Einer der etwas redseligeren Karrenzieher, ein Mann namens Lugatum, schüttelte den Kopf. »O
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