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Hikikomori

Hikikomori

Titel: Hikikomori
Autoren: Kevin Kuhn
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Tage damit gespielt. Und der hat doch wirklich keine Zeit, das weißt du doch.« Sie holt zum zweiten Mal merklich Luft und sucht den Blick Oskars, der sich aber noch immer zum Fenster hin abgewendet hat. »Oskar, sag du doch auch mal etwas!«
    Bis auf wenige Passanten, die die Kapuzen weit ins Gesicht gezogen haben, um sich vor dem durch die Straße brausenden und mit Schnee durchsetzten Wind zu schützen, wirkt die Stadt wie ausgestorben. Hier und da flackert es bläulich, hier und da lässt einer die Jalousie herunter, hier und da huscht eine Silhouette am Fenster vorbei. Wie nach außen abgeschottete kleine Welten, die nichts von den anderen zu wissen scheinen, reiht sich Zimmer an Zimmer, die erst Häuser, dann Straßenzüge, dann ganze Städte ergeben.
    Till steht im Erker. Sein Oberkörper ist nackt. Er greift nach den Griffen, öffnet die Fenster, so dass der Schnee diagonal in sein Zimmer hineinweht, er schlagartig zu frösteln beginnt. Die Luft ist frisch und gut und kalt und klar.

2
    Wo die Couch und die anderen Sachen standen, sind jetzt meine Markierungen, die an sie erinnern. Wenn ich mich abrupt umdrehe, sehe ich das Bett noch in der Ecke. Ich kriege es nicht aus meiner Vorstellung radiert. Geblieben ist auch das Gefühl eines permanenten, sich nur langsam lösenden Drucks, der schon so lange auf mir lastet, dass er Teil von mir geworden ist.
    Ich sitze zwischen den Fenstern am Schreibtisch: Dennoch schaffe ich es mit meinen ausgestreckten Armen nicht, die Scheiben zu berühren. Der Erker sei hoch genug, sagt Mutter, dass seinerzeit ein Fuder Heu darunterpasste. Die Fenster zu meiner Seite sind schmal, die an der Front haben zusammengenommen den Umfang einer Tischtennisplatte. Ich wachse noch bis einundzwanzig, sagt Vater, dann müsse er ran und einen gescheiten Mann aus mir herausschnippeln. Er lacht, wenn er das sagt, aber ich bin mir sicher, er meint es ernst .
    Während Mutter Butterbrote schmiert, Anna-Marie zwischen Bad und Treppenhaus die ersten Nachrichten in den Tablet-Computer tippt, drehe ich mich auf meinem Stuhl um die eigene Achse. Mein Stuhl kann das, sich unendlich im Kreis drehen. Er ist schäfchenwolkenweiß und hat die Form einer Tulpe, in deren Blüte versunken ich sitze. Mutter geht als Letzte. Ihren SchauRaum öffnet sie, wann immer sie Lust hat. Aber meistens wartet schon irgendjemand vor der Tür. – Ich drehe mich so lange, bis ich vor Hunger in die Küche schleiche, das Knarren des Parketts im Flur erschreckt mich, als wollte ich diesen Ausflug auch vor mir geheim halten. Im Brotkorb, der in unserer Küche voller High-End-Apparaturen beinahe archaisch wirkt, finde ich ein Croissant von Tretters Bäckerei. Es schmeckt köstlich und bröselt ungemein. Frau Tretter ist unser Hoflieferant, auch wenn sie davon keine Ahnung hat. Und Mutter ist ein erstaunliches Gewächs, weil sie den Leuten Rollen zuweist und sie diese spielen lässt, ohne sie davon etwas mitbekommen zu lassen. Zurück im Zimmer gehe ich im Kreis, stets im Uhrzeigersinn, um die Matratze herum. Das Zimmer ist größer geworden, seitdem ich es entrümpelt habe. Es fühlt sich gut an, von wenig umgeben zu sein. Vorher waren es 12, jetzt sind es 15 Schritte. Im-Kreis-Gehen belebt das Denken. Ich bin lange nicht mehr im Kreis gegangen, ich hatte lange keine Zeit zum Denken mehr.
    Die Sonne ist weitergewandert. Ich hatte die Augen geschlossen, und etwas später, als ich sie wieder aufmachte, stand sie schon kurz vor dem Zenit. Ich weiß noch nicht, was es für mich bedeuten wird, dass ich die Augen so lange schließen kann, bis der Tag ein anderer ist. Alles ist neu. Alles muss eine neue Bedeutung bekommen. Draußen rollen nur noch vereinzelt Transporter zur Belieferung der Geschäfte über die geschlossene Schneedecke. Die Straßen wurden vor lauter Schnee aufgegeben, die ganze Stadt liegt eingefrostet da. Ich fühle mich unheimlich schwer, vom vielen Liegen bin ich nur noch müder geworden. Aber diese Benommenheit hat was. Unter meinem Fenster knautschen Schritte im Schnee, wenige Menschen, die am Popperbrunnen vorbei Richtung Einkaufsstraße ziehen. Der Brunnen ist seit November abgedeckt und wird erst wieder mit den Zugvögeln erwachen. Es überrascht mich selbst, dass mich so etwas Abseitiges wie Zugvögel interessiert.
    In den meisten Büchern meines Vaters, die er an allen möglichen Orten unserer Wohnung herumliegen lässt, in der Hoffnung, Anna-Marie und ich würden vor Langweile irgendwann darin
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