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Unsere Claudia

Unsere Claudia

Titel: Unsere Claudia
Autoren: Berte Bratt
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Das Haus Nummer achtzehn
     
     
    Das Haus ist groß und von hellgelber Farbe. Es liegt in einer Flucht mit vielen anderen großen, hellgelben Häusern.
    Es hat viele, viele Stockwerke und vier Eingänge, die A, B, C und D heißen. Stehst du draußen auf der Straße und blickst auf das Haus, dann kannst du ins Treppenhaus hineinsehen. Denn die Außenwand des Treppenhauses ist von oben bis unten aus Glas. Du kannst die Treppe sehen, die sich wie ein langer, langer Korkenzieher durch die Stockwerke nach oben schraubt, du kannst die Fahrstühle sehen, die auf und nieder sausen, auf und nieder, Menschen aufnehmen und sie wieder ausspeien. Und du kannst die Glastüren sehen, die zu den Fluren hineinführen.
    An den Fluren liegen die Türen zu den verschiedenen Wohnungen.
    Die Türen sind sich alle gleich, sie sind blank und hellbraun poliert. Hinter diesen Türen liegen Zimmer mit breiten, modernen Fenstern, die nach innen zu öffnen sind. Alle Wohnungen haben Zentralheizung, und überall sind Radioantennen eingebaut. Jede Küche hat ihre Spülbecken aus rostfreiem Stahl, einen elektrischen Herd und Kühlschrank.
    Alle Wohnungen haben ein Bad, und in jedem Stockwerk gibt es eine Klappe zu einem Müllschacht, in den der Abfall hineingeworfen wird.
    Das Haus heißt Nummer achtzehn. Und es ist ein ganz modernes Haus.
    In gewisser Hinsicht ähnelt es einer riesigen Kommode mit vielen Schubläden. Jedes Stockwerk ist so eine Schublade, und jede Schublade ist in vier Fächer eingeteilt – das sind die Wohnungen.
    Die meisten Wohnungen bestehen aus zwei Zimmern, dem Vorplatz, Küche und Bad.
    In diesen Räumen verbringen die Menschen ihr Dasein, hier arbeiten sie, und hier essen und schlafen sie, lachen und weinen, treiben Kurzweil und ärgern sich, erzürnen sich und haben sich lieb, hier werden sie geboren, und hier sterben sie.
    Das Haus erwacht morgens zeitig. Dann rauschen die Wasserleitungen, die Teekessel summen. Und aus den offenen Küchenfenstern hört man das Geräusch von Messern, die auf dem Röstbrot herumkratzen, den Brotscheiben, die die vielbeschäftigte Hausfrau in der Eile auf der Platte oder im Brotröster vergessen hat, und deren verbrannte Kruste sie jetzt abkratzen muß.
    Alle Menschen in Nummer achtzehn haben es schrecklich eilig.
    Das Haus hat acht Fahrstühle, und in den Morgenstunden steht keiner von ihnen auch nur einen Augenblick still. Sie sausen auf und nieder, kleine rote Lampen blinken auf, Türen knallen zu. Und aus den Aufgängen A, B, C und D ergießt sich ein Strom von Menschen. Männer mit Aktentaschen unter dem Arm, Schulkinder mit Ranzen oder Taschen, junge Mädchen mit Schultertaschen und ohne Hut auf den Dauerwellen.
    Das Haus leert sich. Und es wird still. Nur die Hausfrauen bleiben zurück, und nun klirrt es in den Aufwaschbecken, und ringsum in den Schubläden der Kommode brummen die Staubsauger.
    Aber in vielen Wohnungen ist es ganz still. In vielen Küchen ist das Frühstücksgeschirr eiligst in eine Ecke des Abwaschbeckens gestellt worden, und der Staub darf liegenbleiben, denn es ist niemand da, ihn wegzuwischen.
    Solltest du an einer dieser Wohnungen klingeln, dann bleibt alles still. Und klingelst du noch einmal, scheint die Glocke einen schrillen, hoffnungslosen Klang zu haben: die Wohnung ist leer.
    In diesen Wohnungen wohnen nämlich Frauen, die außer Hause arbeiten, Frauen, die Geld verdienen, entweder weil ihr Mann nicht genügend verdient, oder weil sie keinen Mann haben.
    Um die Mittagszeit erwacht Nummer achtzehn abermals zum Leben. Dann sausen die Fahrstühle wieder auf und nieder. Die ersten, die nach Hause kommen, sind die Schulkinder. Eilige Mutterhände öffnen die braunen Türen, gellende Kinderstimmen hallen durch die Flure: „Mutti, weißt du, was unser Fräulein heute gesagt hat… Mammi, denk bloß, ich soll morgen zu Astrids Geburtstag kommen… Mama, ich hab’ solchen Hunger, essen wir bald… Mutti, denk nur, ich habe ,sehr gut’ im Aufsatz bekommen!“
    Aber dann gibt es Kinder, die läuten gar nicht an der Wohnungstür.
    Sie gehen zu ihrer Tür, dann schieben sie die Schultasche von der rechten auf die linke Seite hinüber. Die kleine, schmächtige Rechte holt gewohnheitsmäßig den Schlüssel heraus, der an einer Schnur um den Hals hängt. Geübte Kinderhände schließen das Patentschloß auf, öffnen die Tür, schließen von innen wieder ab, hängen den Mantel auf. Schweigsame Kinder gehen zuerst in die Küche, wo ein Zettel von der
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