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Hikikomori

Hikikomori

Titel: Hikikomori
Autoren: Kevin Kuhn
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herumblättern, steht, wie der Mensch aus sich heraustreten müsse, um sich selbst zu erkennen, wie er dann zu schweben beginne und seine körperliche Hülle unter sich daliegen sehe. Ich kann diesen Zustand routiniert und verlässlich herstellen und schwebe sogleich über mir. Ich liege sehr symmetrisch, die Beine sind ausgestreckt, der Oberkörper kerzengerade, die Hände habe ich brav gefaltet. Obwohl meine Augen geschlossen sind, wirke ich doch plötzlich sehr wach. Etwas hat mich aufgerüttelt, denke ich. Ich zoome weiter heraus, ich müsste jetzt bis knapp unter die Stuckdecke gleiten. Die Matratze fasst meinen Körper ein wie ein Rahmen. Als läge ich in einer Box oder Kiste. Rechts und links sehe ich die Markierungen, die markanten Umrisse meiner Erinnerung. Ich zoome noch weiter heraus. Das Zimmer selbst wird jetzt zur Box, in die früher Möbelstücke hineingebastelt wurden, die nun aber jemand hinausgeschnitten und entsorgt hat. Ich zoome noch etliche Meter weiter heraus, bis ich über dem Wohnhaus schwebe; übereinandergestapelte Boxen, die vollkommen überladen sind. Ich frage mich, wie die Menschen in dieser Umgebung überhaupt atmen können. Gegenstände leben und behaupten ihren Platz, alles gibt vor, einen Sinn zu haben, und zerrt in eine Richtung. Ich zoome weiter und weiter heraus, Menschen verlassen ihre Boxen zum Einkaufen in den umliegenden Straßen, gliedern sich ein wie Blutkörperchen in ihre pulsierenden Ströme. Die Straßen werden zu Hauptschlagadern, die Häuserblocks zu autarken Körpern. Als ich die Troposphäre erreiche, ist es klar und leicht um mich herum. Der Umriss der Stadt selbst ist nun eine alles enthaltende Box, die das keifende Leben zusammenhält. Und von dieser gehen wieder Adern aus, verbinden sich mit anderen Ballungen, transportieren Informationen hin und her, kreuzen sich, stoßen sich. Und Körper überlagern, schichten sich, manche verschmelzen, gehen in einem dritten auf, andere Adern dünnen aus, werden fahl und bleich, bis sie verschwinden oder von einem fremden Körper überlappt werden. Aber wenn ich mich sehr anstrenge und die Augen fest zusammenkneife, dann erkenne ich ganz da unten diesen einen leeren und weißen Fleck. Und dieser einzige leere und weiße Fleck, der sich von den übrigen Zimmern abhebt, wird zur Insel inmitten all der Boxen – es ist das Zimmer dieses Jungen, der rücklings auf der Matratze liegt, umgeben von einer weißen, alles umfassenden Leere, dieser Junge am Anfang von etwas, die Hände brav gefaltet.
    Eine nicht zu mir gehörende Melodie reißt mich in den Körper zurück. Anna-Marie steht über mir und hält mir ihr vibrierendes Smartphone hin. Ist die Schule schon vorbei? Sie trägt eine schmale Röhrenjeans und ein kariertes Flanellhemd. Wie ein modebewusstes Cowgirl. Ich gehe wohl nicht ans Telefon, sagt sie, wenn Jan es schon bei ihr versuche. Ich richte mich in den Schneidersitz auf, nehme es entgegen. Auf dem Display blinkt Jans strahlendes Gesicht. Ich hebe ab, indem ich über das Display wische, während Anna-Marie ihre Hände in die schmale Hüfte stemmt und mich voller Ungeduld anschaut. »Hey, Jan«, sage ich. – »Wir sitzen im Gangatown und essen Hanfburger«, sagt er. – »Schön«, sage ich lakonisch. – »Danach gehen wir ins Enchiladas«, sagt er, »die alte Lerngruppe, komm doch vorbei.« – »Ich habe nichts zu lernen«, sage ich. – »Das macht doch nichts«, sagt er. »Setz dich dazu, lass den Kopf nicht hängen.« – »Ich lasse den Kopf nicht hängen«, sage ich. – Eine Weile lang schweigt er. Immer wenn er solche Pausen einlegt, rattert es in seinem Gehirn, trifft er Entscheidungen. Meistens gute. »Okay«, sagt er, »dann komme ich vorbei«, und legt auf.
    Anna-Marie grinst, als ich ihr das Smartphone reiche. »Was gibt’s?«, frage ich sie, als sie keine Anstalten macht, das Zimmer zu verlassen, und stattdessen weiter auf mich herunterschaut. – »Nichts«, sagt sie. Ich stehe auf, um nicht zu unschlüssig auf dem Bett herumzusitzen, gehe zum Schreibtisch, wühle in einer der Schubladen: »Willst du eine Zigarette?«, frage ich. – »Hast du nicht vor, rauszugehen?«, fragt sie und mustert meine Klamotten. Ich trage eine weit geschnittene Boxershorts und ein x-beliebiges T-Shirt. Die Socken liegen abgestreift irgendwo unter dem Schreibtisch, barfuß wippe ich auffällig hin und her. Wie sie es früher getan hat. »Ich trainiere mir Hornhaut an«, sage ich augenzwinkernd, »indem ich hier im Kreis
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