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Hikikomori

Hikikomori

Titel: Hikikomori
Autoren: Kevin Kuhn
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einem Spiegel den Gesichtsausdruck einzuüben, dem Jungen den eigenen eindringlichen und zersetzenden Blick entgegenzuhalten. Sosehr er sich auch anstrengt, es gelingt ihm nicht.
    Der Bildschirm bestrahlt sein Gesicht matt, unter der Tischplatte vibriert der Rechner ganz leicht an seinem Bein. Auf der Fensterbank befindet sich ein leeres Terrarium, draußen ist es bereits wieder dunkel. Die Schneeflocken schwirren wie ein Schwarm Mücken um das Straßenlaternenlicht, ungleichmäßig große Vierecke werden durch die Erkerfenster an die Wände seines Zimmers geworfen: Trapeze fallen auf die Buchrücken, auf der Wandfläche zeichnet sich Tills Schatten ab. Es gibt zwei Türen im Zimmer. Die eine zum Zimmer Anna-Maries ist geschlossen, in der breiten Tür zum Gang steht der Vater. Oskar tritt ins Schlaglicht. Seine Gesichtszüge wirken wie geschliffen, die Hände groß wie Schaufeln. Viel zu groß für die filigranen Instrumente, die Scheren und Skalpelle.
    Oskar umrundet die Matratze und schaut über Tills Schulter auf den Bildschirm. Till steuert, ohne auf seine Hände schauen zu müssen, ein Fadenkreuz durch eine zweistöckige, mit Fahrzeugen überfrachtete Halle. Trotz der Kopfhörer vernimmt er Oskars Atmen. Hinter einem Lastwagen taucht ein Offizier auf, Till reagiert, indem er X, dann A und W drückt, so seine Figur hinter einer Kiste in Deckung manövriert. Tills Oberkörper sackt in sich zusammen, als müsse auch er sich in Sicherheit bringen.
    »Bist du dafür nicht zu alt?« Seine von Furchen durchzogene Hand legt sich auf Tills Schulter, er spürt, wie sie vor Kraft pulsiert und durch sein T-Shirt hindurch Wärme abstrahlt. Wie ein aufgeladener Gegenstand, der bei Berührung überschüssige Energie freigibt.
    »Was ist los, Papa?« Till drückt die Escape-Taste und zieht die Kopfhörermuschel auf der einen Seite herunter.
    »Ich meine«, sagt Oskar, »jede Zeit hat ihre spezielle Aufgabe, der man entgegentreten sollte, um kantig zu werden.« Till schaut ihn nur entgeistert an. »Und es gibt Essen«, fügt Oskar hinzu und nimmt die Hand von der Schulter.
    Till stülpt sich die Kopfhörermuschel wieder übers Ohr, tippt auf die Escape-Taste und ruckelt an der Mouse. Seine Spielfigur, die ein Scharfschützengewehr bei sich trägt, windet sich aus der Deckung und schlängelt sich an den Fahrzeugen vorbei zum Raketeninnenhof. Eine ganze Weile noch riecht er seinen Vater: Menthol.
    Während Till jeden Muskel seines Körpers anspannt, um frühzeitig reagieren und Geschossen ausweichen zu können, es aber nicht wagt, das Tor zum Raketeninnenhof aufzustoßen, weil er dort die Gegenspieler gut positioniert vermutet, beginnt Oskar im Zimmer umherzugehen. Till fasst Mut und stößt das Tor auf, kann sich kaum auf all die möglichen Verstecke gleichzeitig konzentrieren. In der Spiegelung des Fensters sieht er Oskar sich weiter behutsam durchs Zimmer bewegen, als suche auch er nach versteckten Feinden. Über dem ersten t von Bett bleibt Oskar stehen und reibt mit der Fußspitze über das B . »Sauklaue«, murmelt er. Unter dem Leuchter tippt er gegen die Matratze: »T ill.« Till reagiert nicht. »Hey, Till, ist das bequem?« Till sinkt erschossen zu Boden.
    Er muss die Augen zusammenkneifen, als er sein Zimmer verlässt. Aus dem Wohn- und Essbereich dringen Geräusche. Karola huscht, die Augen fein umrandet, den dunklen Pagenkopf fröhlich hin und her schwingend, durch den Gang und verschwindet in der Küche. Der Kühlschrank ploppt auf und zu, Till durchquert das weite Wohnzimmer, wo Anna-Marie noch in der gleichen Position wie am Nachmittag auf dem Sofa liegt. Der Kamin wirft wieder Schatten an die Wände, knistert gemütlich. In der Ferne sind Autos zu hören, hinter der Flügeltür klappern Teller und Besteck. »Ich habe heute keine Lust«, sagt Anna-Marie in Tills Richtung, als fühle sie sich allein durch seine Anwesenheit herausgefordert, »ich habe keinen Hunger.«
    Oskar ist gerade dabei, den großen Esstisch zu decken, über dessen Nussbaumfurnier er immer stolz mit der Hand fährt, wenn er neuen Gästen eine Führung durch die Wohnung gibt. Die Wurst- und Käseplatten wirken mit leichter Hand, aber kunstvoll arrangiert, dazwischen kleine Schalen mit Radieschen und Essiggurken, verschiedene Senfvarianten in Einmachgläsern, zentral ist ein gefüllter Brotkorb postiert. Beide setzen sich, wie Till hat Oskar klare blaue Augen, die durch die dichten Augenbrauen noch stärker zur Geltung kommen. Till bestreicht sein
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