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Das Phantom im Opernhaus

Das Phantom im Opernhaus

Titel: Das Phantom im Opernhaus
Autoren: Jan Beinßen
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    Die Schreibtischplatte war aus Glas. Man konnte durch sie hindurchschauen, sonst wäre ihm das Blut sicher erst viel später aufgefallen. Aber nun sah er es und wunderte sich. Er hielt es zunächst für Wein, der ihm beim Nachschenken danebengelaufen war. Er bückte sich, strich mit dem Zeigefinger durch das schmale Rinnsal. Dabei fiel ihm auf, dass die tiefrote Flüssigkeit eine andere Konsistenz hatte als der Bordeaux, den er während seiner abendlichen Arbeit am PC genoss. Sie war längst nicht so dünnflüssig und klebte am Finger wie Sirup.
    Paul Flemming hob seine Hand vorsichtig bis auf Augenhöhe und besah sich die benetzte Spitze seines Fingers von Nahem. Dann durchzuckte ihn die Gewissheit: Blut! Paul richtete sich auf seinem Schreibtischstuhl kerzengerade auf. Er unterzog sich einer hektischen Selbstuntersuchung, konnte aber keine Wunde entdecken.
    Erneut bückte er sich nach dem roten Rinnsal, das nun breiter geworden war und von nachfließendem frischen Blut genährt wurde. Paul schauderte. Auf allen Vieren folgte er der Spur. Sie führte von der Arbeitsecke quer durch sein Atelier. Das silberne Mondlicht, das durch das ovale Oberlicht seines Lofts fiel, entlockte der Blutspur ein unheilvolles Glitzern.
    Paul kroch über den Parkettfußboden. Seine Hosenbeine waren schon bald vom roten Nass durchtränkt. Die Spur schlängelte sich an der Wand entlang bis in den Flur. Paul folgte ihr weiter. Bis er stockte und innehielt. Er betrachtete seine Hände. Sie waren verklebt und rotbraun gefleckt. Die Angst lähmte ihn. Doch er musste in Erfahrung bringen, woher das Blut kam. Also voran!
    Die Spur zog sich weiter durch den Korridor und führte zu einem Garderobenschrank. Paul hob den Blick. Die Tür des Schranks war ebenfalls voller Blut: Es floss in breiten Bahnen herab. Die Quelle erkannte Paul in einem großen Karton, der auf dem Schrank stand. Die Pappe war durchgeweicht, aus den Ecken und Ritzen quoll es kirschrot.
    Paul hatte es jetzt eilig, einen Stuhl heranzuziehen. Er stellte sich auf die Sitzfläche, streckte die Arme nach dem Karton aus. Die Pappe fühlte sich vollgesogen an und drohte seinen Händen zu entgleiten. Doch er packte fest zu und brachte den Karton sicher zu Boden. Dabei ergoss sich ein Schwall warmen Blutes auf ihn.
    Voller böser Vorahnungen stellte er den Karton vor sich auf dem Parkett ab. Vorsichtig klappte er den Deckel auf. Er blickte hinein – und wich entsetzt zurück! Paul presste sich die Hände vor den Mund.
    »Entsetzlich!«, stieß er aus. »Wie grauenhaft!«
    Er zwang sich, noch einmal in den Karton zu sehen. Darin lag ein Kopf. Der Kopf eines Menschen! Paul wandte sich ab, rang um Fassung. Die Zeit verging, er hätte nicht zu sagen vermocht, wie viel.
    Es kostete ihn große Überwindung, sich dem schrecklichen Fund noch einmal zuzuwenden. Dann, nach langem Zögern, führte er seine rechte Hand langsam in den Karton. Er bekam einen Schopf schwarzer Haare zu fassen. Sachte zog er daran, hob den Schädel voller Abscheu, doch behutsam aus der Ummantelung. Ein Gesicht wurde sichtbar. Es war entstellt, grausig entstellt! Das Antlitz des Todes! Der Hals war in Höhe des Kehlkopfs durchtrennt worden. Haut, Fleisch und Sehnen hingen in Fetzen herab. Paul war wie gelähmt vor Entsetzen. Wer war dieser Tote? Und wie war sein Kopf in Pauls Wohnung gelangt?
    Er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, denn es klingelte an der Tür. Paul zuckte zusammen. Wer konnte das sein? Um diese Zeit – es war längst nach Mitternacht! Er ließ den Schädel zurück in den Karton sinken. Er stand auf, sah an sich herunter: Alles war rot, voller Blut! So konnte er unmöglich an die Tür gehen.
    Er eilte in seine Küchenzeile, schnappte sich eine Schürze, band sie hektisch um die Hüfte, verdeckte die gröbsten Flecken. Es klingelte erneut. »Ja, ja! Ich komme schon!«, rief er. Er ging schneller, fing an zu laufen. Doch er rutschte über der Blutlache vorm Garderobenschrank aus, fiel hin. Auf dem Bauch schlitterte er weiter. Bis ans Flurende, wo er zu den Füßen der Mokkabraunen liegen blieb. Der lebensgroße Fotoabzug eines Aktmodels lächelte ihm aufmunternd zu. Paul wusste, dass es nur ein Bild war, doch der anfeuernde Blick der rassigen Schwarzen machte ihm neuen Mut. Er rappelte sich auf- und schrak erneut zusammen: Er sah, dass auch die exotische Schönheit verletzt war. Ihre Kehle war durchtrennt worden. Aus einer klaffenden Wunde sprudelte Blut. Neues, frisches Blut, das sich auf den
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