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Hikikomori

Hikikomori

Titel: Hikikomori
Autoren: Kevin Kuhn
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seinetwegen gekommen. Was er denn von der organischen Architektur halte, fragt Vater ohne Umschweife. »Und was meinst du«, fügt er, ohne auf die Antwort zu warten, hinzu, »sollten nicht die Bauten der Zukunft wieder Teil eines übergeordneten Ganzen sein, du verstehst, die Umgebung mit ins Bauvorhaben integrieren?« Ein paar Sekunden ist es still. Dann antwortet Jan, langsam und bedacht, wie ihn das Innen und das Außen interessiere, wie man das Außen nach innen und das Innen nach außen holen müsse, um dem Menschen gerecht zu werden, und dafür brauche man Tonnen von Glas. Das hätte von Vater stammen können, bestimmt nickt er ihm jetzt anerkennend zu. Oder er klopft ihm auf die Schulter, ich höre, wie er sagt: »Jan, unser neuer Frank O. Gehry in spe!« – »Danke«, sagt Jan und schaut gewiss verlegen zu Boden. – »Aber noch ist es nicht so weit«, setzt Vater wieder an, »davor willst du doch erst einmal in die Welt hinaus, nicht?« Mit gedämpfter Stimme, als solle ich das nicht hören, antwortet Jan, das sei noch offen, erst einmal müsse er seinen Kopf für die Prüfung freihalten, danach erst schaue er, wohin sein Weg ihn führt. Mich erwähnt er nicht, obwohl wir vor Jahren fest ausgemacht hatten, dass wir gleich nach den Prüfungen in den erstbesten Flieger steigen und erst dann zurückkommen würden, wenn wir uns so sehr verändert hätten, dass uns zu Hause keiner mehr erkennen würde.
    Die beiden unterhalten sich noch eine Weile angeregt über das Ausgraben von Charaktermerkmalen. Vater bringt mal wieder seine Theorie an, gerade Fachärzte für ästhetische Chirurgie hätten mit Instrumentarien genau nach solcherlei verschüttgegangenen Merkmalen zu suchen und diese freizusetzen. Charakter bedeute schon seit der Antike so viel wie ›eingebranntes Erkennungszeichen‹. Nichts anderes habe der Chirurg nachzuzeichnen. Als Vater vorschlägt, Fragen der Charakterentwicklung anhand meines neuen Zustandes zu diskutieren, drücke ich Befehl-Q, um schnell das Spiel zu verlassen. Ich will nicht, dass Jan mich so träge vor dem Rechner sitzen sieht, und überspringe die Matratze hin zur Türschwelle, eile in den Gang hinaus. Zu sehr steht meine neue Welt noch am Anfang, als dass ich sie vorzeigen wollte.
    Ich habe nicht vor, etwas zu Jans Zukunftsplänen zu sagen, stattdessen umarmen wir uns herzlich: Wir sind in etwa gleich groß, sein lockiges Haar kratzt an meinem Ohr. Er riecht nach Gel, Bier und Kaffee. So müssen Abiturienten riechen, denke ich.
    »Wie geht’s?«, fragt Jan. Vater bleibt neben uns stehen, rührt sich keinen Zentimeter. Ich sehe seinem Schmunzeln an, wie sehr er es liebt, das Aufeinandertreffen zweier junger Persönlichkeiten zu beobachten. – »Ich könnte einen Kaffee vertragen«, sage ich. – »Oho, mein Stichwort«, sagt Vater freudig, wir nicken ihm synchron zu, so dass er sich nützlich fühlt und in die Küche verschwindet. Ich schaue Jan grinsend an, weil er Vaters handwerkliche Fähigkeiten kennt, weiß, wie er die Küche im Chaos hinterlassen wird, Kaffeespritzer und -pulver überall. Im Wohnzimmer setzen wir uns in die Kaminsessel. Manche würden das Kaminfeuer unterhaltsam nennen, wir schlagen die Beine übereinander, es tut gut, in die Flammen zu starren. Jan berichtet, wer alles zum Lernen gekommen sei. Ich frage nach Matze und wie er sich schlage. Matze sei immer noch langsam wie ein untermotorisierter Geländewagen, man müsse sehr viel Geduld mit ihm haben. Ich lache, weil es nie anders war, wundere mich aber gleichzeitig, wie fern sich das alles schon für mich anfühlt; als berichte Jan aus der tiefsten Vergangenheit. – »Und wie war dein erster Tag?« Jan legt den Kopf schief, schaut mich von der Seite an. Ich zögere, ich mag seine Direktheit. Von sich überlappenden Körpern könnte ich ihm erzählen, und wie ich mich von dieser Überlappung freimache. Aber irgendetwas hält mich zurück. Ich sage: »Es hat sich nichts verändert.« – »Und was meint Kim?« Sie sei auf meiner Seite, antworte ich. Jan lehnt sich zurück, schaut übertrieben verwundert, sagt: »Hallo?! Wir alle sind auf deiner Seite.« Ich bedanke mich und betone, wie nett das von allen sei, meine Seite einzunehmen. Aber tatsächlich empfinde ich diese Vorstellung nicht gerade als angenehm, fühle sogar Beklemmungen beim Gedanken daran, wie sie alle wieder auf meiner Bettkante sitzen und zu wissen meinen, wer dieser Till eigentlich sei, wohin sein Weg führen wird. Das Kaminfeuer kommt
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