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Hikikomori

Hikikomori

Titel: Hikikomori
Autoren: Kevin Kuhn
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mir jetzt viel zu heiß vor, mir ist, als spüre ich, wie es den Sauerstoff zwischen den Gegenständen, zwischen Jan und mir verbrennt, wie mir die Luft zum Atmen knapp wird. Vater guckt neugierig aus der Küche zu uns herüber, als ahne er so etwas. Als sich unsere Blicke treffen, zieht er die Augenbrauen hoch.
    »Was ist los?«, fragt Jan. – Nichts sei los, sage ich. Und während Vater wohlwollend die Cappuccinos auf den Beistelltisch stellt, es sich dann mit einem seiner Bücher im Lesesessel gemütlich macht, ab und an aufsieht, wie ein Nachtwächter, der nach dem Rechten schaut, versuche ich wieder diesen Druck zu verringern, mich von dieser Beengung zu befreien. Doch die Glieder sind auf einmal tonnenschwer und wie mit dem Sessel verwachsen, als ich versuche, mich aus der Situation zu katapultieren. Solange ich noch unter ihnen bin und diese meine alte Rolle spiele, auch wenn es die Rolle ist, sich gegen alle Beeinflussung zu wehren, werde ich nie ein anderer sein. Doch diesen anderen gibt es. Es ist etwas in mir, das Raum braucht, einen großen, etwas, das niemals in vorgefertigte Boxen passen wird. Und ich muss es sein, der diesen Raum erschafft, nicht Jan, nicht Vater, ich allein.
    »Warum bist du denn so nervös?« Jan setzt die Tasse vor sich ab, wischt sich den Milchschaum von den Lippen. – »Ich bin nicht nervös«, sage ich. Aber als könnte er in mich hineinschauen und suche nach den Gründen für meine Beklemmung, berichtet er von dem ersten Schultag ohne mich, wie Frau König, beinahe schon verzweifelt, die Leerstelle, die ich hinterlassen würde, auszufüllen versucht habe. Ich sei eben für sie immer der Chaot gewesen, der mit seiner Art gegen die Gemeinschaft arbeitet. Und da sie jetzt keinen mehr habe, dem sie dies anlasten könne, falle der schlechte Unterricht allein auf sie zurück. Ganz wild und kämpferisch fuchtelt Jan nun vor dem Kaminfeuer mit den Armen, regt sich über die Ungerechtigkeit auf und beteuert, dass er das nicht dulden werde und er damit nicht alleine sei. »Darauf kannst du dich verlassen«, sagt er. Ich bringe es nicht übers Herz, ihm zu sagen, dass ich mich darauf gar nicht verlassen will.
    Als hätte Oskar nur auf seinen Einsatz gewartet, steht er plötzlich bei uns. Auch Anna-Marie ist jetzt im Wohnzimmer, hat sich auf die Couch gelegt, ein Müsli auf ihrem Bauch balancierend. Ich stehe unter besonderer Beobachtung, schießt es mir durch den Kopf. Wie in Quarantäne. – Vater sagt: »Das ist ein neuer Lebensraum, den du betrittst, verstehst du? Du solltest vielleicht an einen neuen kreativen Ausdruck denken, Plastizieren zum Beispiel. Die nächsten Schritte sind entscheidend!« – »Er könnte ja auch virale Apps entwickeln.« Anna-Marie hat sich uns zugedreht, den vollen Löffel in der Hand: »Das boomt, und dafür müsste er nicht einmal mehr rausgehen.« – »Zumindest etwas tun«, fällt Jan ihr ins Wort, »nicht versacken, immer aktiv bleiben.«
    Befehl-Q, denke ich und stehe abrupt auf. »Ich fühle mich nicht gut«, sage ich, »ich brauche Ruhe.« Jan scheint wirklich verwundert. Vater schüttelt nur enttäuscht den Kopf. Anna-Marie befasst sich mit ihren Haferflocken. Ich umarme Jan zum Abschied, sage: »Danke für den Kaffee, Papa«, und verlasse das Wohnzimmer.
    In meinem Zimmer ist die Luft unheimlich frisch. Und Kim ist wieder da. Sie hat auf mich gewartet, und ich freue mich, sie zu sehen. Als Screenshot hängt sie nun neben mir an der kahlen Wand, die Haut ist blass und voller Sommersprossen. Ich mag, wie ihr rechtes Ohr weiter als das linke absteht. Auf dem Computerscreen blinzelt sie mit den Augen, strahlt, als sie mich in ihrem Bildschirmfenster auftauchen sieht. »Kim«, sage ich, »ich schaffe das allein.« – »Was schaffst du alleine?« – »Ich will das alleine schaffen.« – »Was willst du alleine schaffen?« – »Ich brauche dich nicht, ich brauche keine Familie.« Sie schweigt. Ich sehe, wie sie erstarrt, wie sie versucht, sich zusammenzureißen. Sie schaut mich an, sucht nach einem Zeichen, wie sie sich als Nächstes verhalten soll. Befehl-Q, denke ich. »Gegen Wind und Wetter«, sage ich. »Das bin erst einmal nur ich.« Noch bevor sie ein weiteres Wort sagen kann, drücke ich die Tastenkombination, bleibt von ihr nur der sommersprossengepunktete Screenshot an der Wand.

3
    Jans Stimme ist warm, sanft raspelt sie durch die Windungen der Boxengehäuse. Per Videostream ist sein Gesicht überlebensgroß auf Tills Bildschirm sichtbar.
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