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Die Suendenburg

Die Suendenburg

Titel: Die Suendenburg
Autoren: Eric Walz
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Bilhildis
    Der Schrei war von erschreckender Schönheit wie aus einem Albtraum. Ich hätte nie gedacht, dass es eine Frau gibt, die so entsetzlich schön schreien kann. Ich wünschte, ich könnte es. Aber alles, was aus meinem zungenlosen Mund kommt, sind zermahlene Brocken von Wörtern, noch nicht einmal die Vokale treffe ich richtig. Sie verlaufen in meinem Mund ineinander und werden zu etwas Breiigem, das die Leute ekelt, und deswegen versuche ich erst gar nicht, zu sprechen, es sei denn, ich will jemanden ärgern. Elicias Schrei war ein klares, helles A. Ich erwachte erst davon, als Elicia nahe an meiner Kammer vorbeilief, und ich benötigte einen Moment, um ihren Schrei von dem Lärm der im Burghof feiernden Krieger unterscheiden zu können. Wie ein Wind fegten die junge Frau und ihr Schrei an mir vorüber. Ich öffnete die Tür und sah, wie Elicia in die Kammer ihrer drei Zofen stürmte, doch nur, um sogleich ihren verzweifelten Irrlauf durch die Burg fortzusetzen. Ihre Zofen folgten ihr wie ein Schweif. Das klare A wurde zu einem weichen, klagenden E, das stets von Neuem wiederholt wurde: ein E, Atemluft holen, wieder ein E, Atemluft holen … Zu diesem Zeitpunkt rannte Elicia bereits durch den großen Hof, bekleidet mit einem von der Hüfte abwärts nassen, leicht rötlichen Nachtgewand. Ratlos standen die Leute herum – Wachen, Gesinde –, und keiner durfte es wagen, Elicia, die Tochter des Grafen, aufzuhalten. Die Einzigen, denen das außer mir gestattet gewesen wäre, waren ihr Vater, ihre Mutter und ihr Gemahl, aber von denen war keiner zu sehen. Manche von den Wachen und vom Gesinde sprachen Elicia an und wollten ihr helfen, doch sie bahnte sich ihren Weg, ihr jammerndes E vor sich herschickend und hinter sich herziehend.
    Schließlich holte ich sie ein, oder besser gesagt, sie lief mir geradewegs in die Arme, und ich schnappte sie mir, so wie ich manchmal die Mäuse schnappe, die nachts um mein Schlaflager huschen.
    Sie versuchte, mich von sich zu stoßen, aber wenn ich auch alt und dünn bin, so bin ich doch nicht schwach. Sie schrie und jammerte, sie fuchtelte mit den Händen herum, und wir lieferten uns, umringt von der staunenden Festgesellschaft, ein albernes Handgemenge, bis ich die Geduld verlor und ihr eine Maulschelle gab, die sich gewaschen hatte. Dann gleich noch eine, aber nur, weil die eine Wange weniger wehtut, wenn auch die andere was abkriegt. Nun gut, das ist ein Ammenmärchen, im wahrsten Sinn des Wortes, also gestehe ich, dass es mir auch ein bisschen Spaß machte. Ich war ihre Amme – was heißt »war«. Amme bleibt man allezeit, auch wenn das Kind bereits zweiundzwanzig Jahre zählt. Nur darf man ihm da normalerweise keine Maulschelle mehr geben, auch wenn es eigentlich eine verdient, weil es sich wie ein bockiges Kind verhält. Diese Maulschelle war schon lange fällig gewesen, und ich nutzte die Gelegenheit.
    Elicia hörte sofort auf zu schreien. Na bitte, ich sag ’ s doch, es gibt drei Gruppen von Menschen, bei denen man mit Vernunft nicht weit kommt: Blödsinnige (die gar nicht wissen, was Vernunft ist), Kinder (die noch nicht in sie hineingewachsen sind) und Krieger (die sie freiwillig abgegeben haben). Meiner Meinung nach ist Elicia zwei dieser drei Gruppen zugehörig. Und wenn man stumm ist wie ich, hat man ’ s noch schwerer zu überzeugen.
    Elicia rang nach Worten und deutete in Richtung des Wohnturms. »Vater … tot … im Bad … Blut … überall Blut«, sagte sie im Tonfall eines kleinen Kindes, und dann fiel sie mir in die Arme. Drei Wachen rannten sofort los, um im Bad nachzusehen. Mein Gatte Raimund half mir, Elicia in ihr Gemach zu bringen, wo ich sie rasch auszog und zur Ruhe bettete. Sie fing an, zu wimmern und sich zu krümmen. Ich streichelte ihr Haar, ließ sie dann aber allein.

Elicia
    Das Schrecklichste, Grauenhafteste, Undenkbarste ist passiert. Wie soll ich dieses Bild je wieder vergessen, wie kann ich es loswerden? Das Zittern meiner Hände, so glaube ich, wird nie mehr aufhören, bis an mein Ende. Vor etwas mehr als zehn Stunden erst, am Nachmittag des vergangenen Tages, haben diese Hände meinen Vater gefeiert, der nach Monaten des Feldzugs gegen die Ungarn triumphal in die Burg zurückkehrte, und ich habe ihn freudig umarmt. Etwas später hat er meine Hände in seine genommen, und wir haben getanzt. Und nun …
    Einen klaren Gedanken zu fassen fällt mir schwer. Ich habe immer wieder dasselbe vor Augen, wohin ich meinen Blick auch wende – sei
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