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Silberfieber

Silberfieber

Titel: Silberfieber
Autoren: Peter Wuehrmann
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Prolog
    Rosa Schaumkronen, meine Güte, ich brauche eine Brille.
    Captain Frederic Ross ließ das Fernglas sinken und wischte sich mit der freien Hand den Regen aus dem Gesicht. Dann hielt er sich erneut das Glas vor die Augen.
    Der rosafarbene Schaum hob und senkte sich spielerisch auf der heranrauschenden Brandung. Ein trübgrauer Novembermorgen an der kanadischen Atlantikküste. Sichelförmige rosa Halbmonde zwischen kaltem braunen Wasser und salziger Gischt, etwa einen halben Meter lang an der Schnittfläche, schätzte Captain Ross.
    »Kannst du irgendwas Bestimmtes erkennen?«
    Absichtlich fragte er so vage wie möglich und hoffte, dass Sergeant Bill Grimsby, der sein Untergebener und fast zwanzig Jahre jünger war, seine Hilflosigkeit nicht heraushören würde. Je länger Bill schwieg, desto sicherer wurde sich Fred, dass Bill ebenfalls rosa sah.
    Bill zeigte keine Regung, nur sein Zeigefinger drehte emsig das Okular seines Feldstechers hin und her.
    »Flamingos«, sagte er endlich, »rosa Flamingos, sie liegen flach auf dem Wasser, als ob sie tot sind.«
    Der Seewind trieb ihnen den Regen in die Augen, als sie beide ihre Ferngläser an den Riemen baumeln ließen. Ihre Blicke kreuzten sich. Bill hob entschuldigend die Schultern, kaum zu bemerken unter dem dicken Polizei-Parka.
    »Tut mir leid, Fred, auf die Entfernung sieht das aus wie ein Schwarm von rosa Vögeln.«
    Frederic Ross zog die Augenbrauen zusammen. »Im November im Nordatlantik, bei Windstärke sieben und einer Wassertemperatur von höchstens zwölf Grad. Das dürfte eine biologische Sensation sein.« Erzog den Reißverschluss seines Anoraks bis unters Kinn nach oben.
    »Komm, wir sehen uns deine Flamingos mal aus der Nähe an.« Er sprang vom Anleger herunter, und seine Gummistiefel landeten mit einem dumpfen Aufprall in einer Pfütze, die sich im Sand rund um einen Holzpfahl gebildet hatte, der den Steg abstützte.
    »Na, ich sagte doch, dass sie mausetot aussehen«, verteidigte sich Bill und trat drei Schritte zur Seite, bevor er sprang, um nicht ebenfalls in der Pfütze zu landen. Bei seinem Gewicht hätte das aufspritzende Wasser die Uniformhose bis über die Gummistiefel durchnässt.
    Zwanzig Minuten später musste Fred zugeben, dass Bill Recht hatte und auch wieder nicht. Jedenfalls hatte es nichts mit Biologie zu tun. Frederic Ross bückte sich und klopfte mit dem gekrümmten Zeigefinger gegen den dicken rosa Bauch des Plastikvogels. Ein tönernes, hohles Geräusch erklang.
    Zierrat für den Garten, hergestellt für die Ewigkeit, in China oder Hongkong. Unterwegs in einem Zwanzig-Fuß-Container zu einem der Seehäfen an der nordamerikanischen Ostküste. Nur dass diese Ladung Gartendekoration ihr Ziel nie erreichen würde, da sie sich jetzt über den nassen Sandstrand der Küste Nova Scotias verteilte. Die rosa Plastikflamingos waren nicht das Einzige. Ein weißer Gartenstuhl wurde dreißig Meter von Frederic Ross entfernt vorsichtig von einer Welle abgeladen – ein Geschenk für Strandgutsammler. Ross fasste nach dem Flamingo zu seinen Füßen und wollte ihn gerade am Schnabel aufrichten, als Bill Grimsbys aufgeregtes Rufen durch den brausenden Wind zu ihm durchdrang. Er ließ den Plastikvogel fallen und blickte auf. Bill beugte sich über ein dunkelgrünes unförmiges Paket, von dem Fred nicht sagen konnte, was es darstellte. Er kannte kein Gartenzubehör, das eine solche Form hatte. Als er in Bills Richtung losmarschierte, hinterließen Freds Stiefel tiefe Abdrücke im nassen Sand, und kleine Seen bildeten sich in der Spur hinter ihm.
    Es war ein menschlicher Körper. In der dunklen Brandung war er kaum zu erkennen gewesen. Die Kleidung hatte sich mit Wasser vollgesogen, das Gesicht war nach unten gewandt, und die Haare glichen den dunkelbraunen Fäden des Seegrases, die aus den grünen Gummistiefeln hervorquollen. Die abwandernde Strömung hatte die Leiche genauso behandelt wie den Gartenstuhl und die Flamingos. Sie hatte sie am Strand abgelegt und sie dann noch sieben, acht Mal wiedergeholt, bevor sie sie endgültig freigegeben und am Ufer zurückgelassen hatte.
    Als Captain Frederic Ross neben ihm stand, packte Bill den Toten vorsichtig mit einem Handschuh an der Schulter und drehte ihn auf die Seite. Bills breiter Rücken versperrte ihm die Sicht, doch er konnte erkennen, dass Bill nicht zurückwich, als er in das tote Gesicht blickte. Das war gut. Dann konnte die Leiche nicht allzu lange im Wasser gelegen haben. Bill gehörte nicht
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