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Die Riesen vom Hungerturm

Die Riesen vom Hungerturm

Titel: Die Riesen vom Hungerturm
Autoren: Horst Hoffmann
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1.
    Jene, deren König er war, nannten ihn den Zornigen. Wer ihm zum erstenmal begegnete, mochte verstehen, weshalb dies so war. Andraiuks Gestalt, seine ganze Erscheinung war schon dazu angetan, Fremden Furcht einzuflößen. Der König, der einfache Kleidung jedem Prunkgewand vorzog und sich oft in den Kleidern eines Kriegers zeigte, war mittelgroß und gedrungen. Dunkles Haupthaar und ein ebenso dunkler Vollbart rahmten sein zuweilen finsteres Gesicht ein, in dem wild entschlossen kleine, schwarze Augen unter buschigen Brauen blinkten. Ständig trug Andraiuk seine Waffen, ein kostbar gearbeitetes Krummschwert und Dolche in verzierten Scheiden. Überhaupt war es Brauch in Ayland, daß die Männer niemals ihre Waffen ablegten, denn das Reich war von Feinden umgeben.
    Wer Andraiuk besser kannte, der wußte allerdings, daß er längst nicht mehr der zornige, unerbittliche Herrscher und Heerführer war, der so lange an der Spitze seiner Kriegerscharen die Grenzen des Landes verteidigt hatte.
    Noch keine fünfzig Sommer alt, war der König ein gebrochener Mann. Zu viele Schicksalsschläge hatte er innerhalb kurzer Zeit hinnehmen müssen – mehr, als ein Mann zu ertragen vermochte.
    Der vorerst letzte und grausamste traf ihn vor nunmehr gerade drei Tagen.
    Andraiuk stand auf den Zinnen des höchsten Turmes seines Palasts und starrte finsteren Blickes auf die Königsstadt hinab. Tupan war eine starke, ummauerte Festung, nur von Nordosten zugänglich. Die 50.000 Bewohner lebten in flachen, weiß gekalkten Steinhäusern, die sich terrassenförmig an die Hänge der Berge zu beiden Seiten des Flusses Hyma schmiegten. Der Hyma selbst war ein Zufluß des Reyhim, der tief in der Düsterzone entsprang und sich durch das gesamte Ayland zog und bis weit hinauf nach Kaistan.
    Andraiuk sah das rege Treiben in den Straßen. Heute war Markttag in Tupan. Doch der König fragte sich, wie lange die Ays noch in Frieden leben konnten.
    Es schien, als hätte er einen großen Fehler begangen, als er zu sehr auf die Sicherung der Grenzen vertraute und die hauptsächliche Bedrohung des Reiches in den Valunen, der Hexe Quida, dem Schrecklichen Dreigespann und anderen Ausgeburten der Düsterzone sah, die sich im Süden von der weddonischen bis hin zur yogunischen Grenze erstreckte – und weit darüber hinaus.
    Ein verhaltenes Räuspern erinnerte Andraiuk daran, daß er nicht allein war.
    »Du hast deine Meinung also nicht geändert, Dryhon?« fragte er, ohne sich umzuwenden.
    »Verzeih, Herr«, sagte der Magier, der zweite im Rang nach Alamog. »Doch es ist nicht nur meine, sondern die Ansicht fast all deiner Magier. Das Kind, das dir die Königin gebar, ist besessen. Alle Zeichen sprechen dafür. Um Schaden von deinem Haus und dem ganzen Land abzuwenden, muß es den Mächten der Finsternis geopfert werden.« Die hohe, schrille Stimme des Zauberers wurde eindringlich. »Du darfst damit nicht länger warten.«
    Andraiuk preßte die Lippen aufeinander. Es hatte wahrhaftig den Anschein, als läge ein Fluch über dem Königshaus. Drei Kinder waren ihm geschenkt – Lugon, mit 21 Sommern sein ältester Sohn und Thronfolger, Verig, mit seinen fünfzehn Sommern schon jetzt ein ausgezeichneter Kämpfer und Liebling der Ays, schließlich Andraiuks bislang einzige Tochter Allil, elf Sommer alt.
    Das gerade neugeborene Mädchen Lillil rechnete Andraiuk noch nicht dazu. Es lag an ihm, über ihr Schicksal zu entscheiden, und fürwahr – nie hatte er stärker mit sich ringen müssen.
    Nach Allil hatte Sabri, Andraiuks Weib, nur noch Fehlgeburten gehabt, drei an der Zahl. Immer hatte kurz vor der Niederkunft das Böse Auge der Quida durch die Düsterzone geblinkt. Und auch diesmal hatte Alamog, des Königs Leibmagier, das Erscheinen des Bösen Auges just für den Zeitpunkt prophezeit, zu dem die Geburt Lillils erfolgen sollte.
    Andraiuk hatte alles in seiner Macht Stehende getan, um einem weiteren Unglück entgegenzuwirken. Sabri wurde von allem Weltlichen ferngehalten. Die Magier brauten ihr Tränke aus der Wurzel des Alarun und den Beeren der Schwarzen Kirsche, aus Samehedd und anderen Kräutern, die die Macht der Dämonen bannen sollten. Ihre Gemächer waren mit Fetischen, Amuletten und Talismanen ausgelegt worden. Immer war mindestens ein Magier in ihrer Nähe.
    Und Alamog selbst wurde mit zwei Dutzend Kriegern in die Düsterzone geschickt, um dort dem Treiben der Hexe ein Ende zu bereiten. Doch von ihm und den Kriegern fehlte jedes Lebenszeichen, und als
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