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Harka der Sohn des Haeuptlings

Harka der Sohn des Haeuptlings

Titel: Harka der Sohn des Haeuptlings
Autoren: Liselotte Welskopf-Henrich
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ihr Blick wandte sich dem Knaben zu. Sie legte ihre immer noch fröstelnde Hand auf die seine, und das sagte genug. Harka schaute nach Uinonah. Sie hielt die Augen geschlossen, und scheinbar schlummerte sie, aber ihr Atem war nicht der einer Schlafenden. Harka strich ihr leicht über die Stirn, da machte sie die Augen auf, aber sie bewegte sich nicht. Der Knabe zog das Festkleid der Schwester zu sich heran und schlüpfte behend hinein, ohne sich aufzurichten. Das Messer steckte in der Scheide, die er an der Sehnenschnur um den Hals trug; er hatte es des Abends nicht abgelegt. Die Waffe hing ihm auf der Brust unter dem ungewohnten Kleid. Er packte die Büchse und schob die Munition in die Gürteltasche, die zu jedem Frauenkleid gehörte. Endlich nahm er noch eine Lederdecke an sich. Dann erhob er sich lautlos, mit aller Gewandtheit und Übung, wie sie ihm in früher Jugend schon eigen war. Er kroch genau an der Stelle, an der er in der Nacht zuvor gelauscht und gespäht hatte, unter der Plane aus dem Zelt hinaus. Als er dabei den letzten Blick in das Innere des Tipi warf, sah er, wie Uinonah die Schlafdecke höherzog und auch das Gesicht darunter verbarg. Er ahnte, daß das Mädchen weinte. Niemand konnte es hören, und es sollte auch niemand sehen. Die Tochter des Geächteten und die Schwester eines entflohenen Bruders würde sehr einsam sein unter allen anderen Kindern.
    Der Knabe befand sich im Freien. Er schlenderte wie ein Mädchen, das besonders früh aufgestanden war, zwischen den Zelten durch. Er mußte sich nur vorsehen, daß niemand das Mazzawaken unter der um die Schulter geschlagenen Decke erkannte. Ohne daß die Wache bei den Pferden von ihm Notiz nahm, fand er im Gehölz sein Büffelpferd genau da, wo er es zu finden gedacht hatte. In der Nähe des Platzes, zu dem er es geführt hatte, befand sich ein Fleck saftigen Grases, und dorthin hatte das locker gefesselte Pferd gestrebt. Harka durchschnitt ihm die Fesseln rasch, denn er hörte, daß die Wache herbeikam. Aber der Krieger beeilte sich nicht genug, und ehe er etwas unternehmen konnte, war Harka aufgesprungen und sprengte westlich in die Prärie hinein.
    Der Knabe hörte einen halblauten Ruf der Wache. Er wandte den Blick noch einmal rückwärts, dann versank das Gehölz für ihn schon zwischen den Bodenwellen, und auch er war von dort her für niemanden mehr sichtbar.
    Aber er hatte die Spur des Vaters, die er in der ausgehenden Nacht und der beginnenden Morgendämmerung mit scharfen Augen lesen konnte.
    Er galoppierte dahin. Er streichelte den Mustang, er flüsterte ihm seine Koseworte zu, und das Tier gab alle seine Kräfte und flog dahin.
    Im ganzen Dorf hatte nur Tatanka einen Mustang, mit dem er Harka einholen konnte. Aber vielleicht bestieg er ihn nicht. Oder er bestieg ihn zu spät.
    Steif wehte die Luft um Harka und erfrischte ihn. Er ritt lange, stundenlang im Galopp, dazwischen im Schritt, um das Tier zu Atem kommen zu lassen. Es wurde Nachmittag.
    Auf einmal aber hatte Harka die deutliche Fährte, der er folgte, verloren. Er hielt erschöpft an und schaute suchend umher. Es kam ihm zu Bewußtsein, daß der Vater von hier ab seine Spur verborgen hatte.
    Harka stieg ab. Er schlüpfte aus dem lästigen Mädchenkleid, warf es dem Pferd über den Rücken und prüfte die Fährten genau. Auch Mattotaupa schien hier abgestiegen zu sein. Das Gras zeigte ein Gewirr von Hufspuren, als ob ein Mustang frei umhergelaufen sei und gegrast habe, und es war nicht zu erkennen, welche Richtung er endlich eingeschlagen hatte. Jedenfalls war das Pferd nicht mehr da, obgleich seine Spuren noch sehr frisch waren. Fußspuren fand Harka nicht. Wußte er, ob er sie je finden würde? Mattotaupa war ein geübter Krieger und Jäger. Wie sollte ein Knabe ihm nachspüren, wenn er sich nicht finden lassen wollte? Harka lehnte sich an seinen verschwitzten Mustang.
    Das Tier hob den Kopf und witterte.
    Harka durchzuckte eine unbestimmte Hoffnung, die er sich selbst noch nicht zu gestehen wagte.
    Das Tier wurde immer unruhiger, und diese Unruhe war freudig. Der Knabe löste seine Hand von dem Pferderücken und lauschte. Er konnte keinen Laut vernehmen, aber die Unruhe des Tieres teilte sich ihm immer stärker mit.
    »Vater!« sagte er vor sich hin, »Vater!« Er sagte es, ohne sich selbst dessen bewußt zu sein; seine Gedanken bewegten seine Lippen. »Vater!«
    Es war wie ein Zauber, und doch war es nur das ganz und stark Erwartete, als dicht neben Harka eine hohe Gestalt
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