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Harka der Sohn des Haeuptlings

Harka der Sohn des Haeuptlings

Titel: Harka der Sohn des Haeuptlings
Autoren: Liselotte Welskopf-Henrich
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auf jede geringste Schwingung der Luft und vernahm etwas Undeutliches. Es war keine menschliche Stimme, die zu ihm drang. Vielleicht war es eine Trommel, die leise geschlagen wurde, irgendwo, der Ton war sehr schwach.
    Harka gewann den Eindruck, daß die Dorfbewohner draußen hin- und hergingen, daß sie sich vielleicht anders ordneten oder der Reihe nach zu einer Stelle und wieder davon weggingen, aber er konnte sich nicht vergewissern. Die mit den weichen Mokassins bekleideten Füße machten zuwenig Geräusche.
    Der Knabe studierte die Lichtstrahlen, die sich am Boden, durch den Rauchabzug, durch die Schlitze am Zelteingang hereinstahlen. Es war Morgen, und bis zum Mittag mußten sicher noch mehrere Stunden vergehen.
    Der Knabe wählte einen Lichtfleck für seine Beobachtung. Nach der Veränderung dieses Lichtflecks wollte er den Ablauf der Stunden messen.
    Der leise Ton, der von einer Trommel herzurühren schien, verstummte. Die Stille draußen wurde vollständig. Zwei Stunden vergingen, ohne daß sich etwas zu verändern schien.
    Aber dann erhob sich eine Stimme. Sie klang bis zu Harka; aber Zeltplanen fingen die Kraft ihrer Wellen ab, so daß der Knabe die Worte nicht verstehen konnte. Es war eine Stimme, die Harka fremd war. Vielleicht sprach Tatanka-yotanka. Er konnte nicht auf dem Dorfplatz stehen, dann hätte der Knabe die Stimme deutlicher vernommen. Die Stimme war stark gedämpft, so gedämpft, daß Harka den Sprecher in einem anderen Zelt vermutete. Aber der Sprecher mußte an seinem Platz laut und eindringlich reden, sonst hätte Harka überhaupt nichts vernommen.
    Der Knabe glaubte, daß Tatanka-yotanka im Zelt des Häuptlings Mattotaupa stand und sprach.
    Als die Stimme ausklang, war wieder Schweigen, aber nur für einen Augenblick. Dann wurde die wartende Stille von einem Aufschrei zerrissen, und Harka zuckte zusammen und packte seine Waffe fester, denn diesen Schrei hatte Mattotaupa ausgestoßen, das erkannte der Sohn des Häuptlings.
    Es folgte ein zweiter Ruf, so wild, so voller Aufruhr, daß der Knabe sogar ein Wort erfassen konnte: »… nicht wahr! Nicht wahr!«
    Nicht wahr! Das eine Wort und sein Klang sagten Harka genug. Der Vater war es, der in der Rede beschuldigt worden war. Furchtbar mußte er beschuldigt worden sein. Aber was der Sprecher gesagt hatte, war nicht wahr. Lüge war es. Lüge. Harka glaubte noch mehr zu begreifen. Blitzartig wurde ihm die Situation klar. Als Tatanka yotanka ihn, den Knaben aus dem Zelt Tschetans holte und in das Tipi des Zaubermannes brachte, mußte er schon gewußt haben, was er vorhatte, mußte er schon gewußt haben, daß er Mattotaupa beschuldigen wollte, mußte er gewußt haben, daß Harka des Nachts beim väterlichen Zelt gewesen war und gesehen hatte, wie Mattotaupas Kraft dem Zauberwasser widerstand – und weil er das alles wußte, hatte er Harka in das Tipi Hawandschitas gebracht, Harka, den einzigen, der für den Vater zeugen konnte.
    Der Knabe sah Tatanka-yotanka wieder vor sich stehen. War der große Geheimnismann selbst ein Lügner?
    Das konnte nicht sein.
    Nein, das konnte auch nicht sein.
    Aber wer hatte Tatanka-yotanka belogen?
    Hawandschita?
    Es würde sich zeigen, es mußte sich zeigen.
    Harka hörte die Stimme des Vaters nach dem ersten Aufschrei und dem folgenden Ruf nicht mehr.
    Aber er hörte jetzt wieder den gedämpften Klang der Stimme, die er für die Stimme Tatanka-yotankas hielt. Draußen vor dem Zelt erhob sich ein Murmeln, das erschreckt und zornig, furchtsam und drohend klang. Es schwoll an und schwoll ab.
    Die einzelnen Stimmen konnte der Knabe nicht mehr unterscheiden.
    Was sollte er tun? Aufspringen, mit der geladenen Büchse hinausrennen, einen Schuß abgeben, damit alle auf ihn hören würden, und laut hinausrufen, was er des Nachts gesehen hatte? Damit alle wußten, daß der Vater untadelig war, damit der Vater wußte, daß Harka nie eine Lüge über ihn glauben würde?
    Es war der Augenblick, in dem Harkas Gehirn schaltete und den Bewegungsnerven den Befehl gab zu funktionieren, in dem seine Beinmuskeln in Aktion treten wollten …
    … da öffnete sich der Eingangsschlitz des Zeltes, und Hawandschita trat ein, begleitet von Schonka.
    Harka konnte seinen Nerven, Muskeln und Sehnen nicht mehr Halt gebieten, auch wenn er es wollte. Er saß nicht mehr still, wie ihm geheißen worden war, er stand den Eintretenden aufrecht gegenüber, die geladene Büchse in der Hand.
    Hawandschita und Schonka stockten, sie blieben ebenfalls
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