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Milchschaum

Milchschaum

Titel: Milchschaum
Autoren: Mehler
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1
    Fanni hatte wieder einmal selbst Schuld. Sie hatte Schuld, dass ausgerechnet sie es war, die den toten Pfarrer fand, weil sie ihre Handschuhe auf dem Grabstein abgelegt und dann dort liegen gelassen hatte.
    »Typisch«, schimpfte Hans Rot, »vergesslich, schludrig, unkonzentriert. Ich frage mich, was in deinem Kopf so vor sich geht. Du hast doch den ganzen Tag nichts weiter zu tun, als dich um dich selbst zu kümmern, und nicht einmal das kriegst du hin. Wieso hast du die Handschuhe überhaupt ausgezogen bei der Kälte?«
    »Ich musste mich schnäuzen«, verteidigte sich Fanni. »Ich hol sie schnell. Bin gleich wieder da. Such dir inzwischen einen Platz in der Gaststube und bestell dir ein Bier.«
    Sie eilte davon. Schon nach wenigen Schritten aber drosselte sie das Tempo.
    Fanni hatte keine Eile. Ganz im Gegenteil, der Abstecher zurück zum Friedhof kam ihr sehr gelegen. Damit konnte sie Zeit schinden.
    Ein Grüppchen säumiger Trauergäste kam ihr entgegen und hielt auf das Dorfwirtshaus zu. Fanni bedachte sie mit einem Nicken, sie nickten zurück.
    Mit einem Mal war der Birkenplatz leer.
    Wohin haben sich denn alle so schnell verlaufen?, überlegte Fanni und musste dann spöttisch über ihre eigene Frage lachen.
    In warme Stuben natürlich.
    Sie selbst hatte eiskalte Füße, obwohl sie in plüschgefütterten Stiefeln steckten.
    Kein Wunder, dachte Fanni. Dickwanst musste ja sämtliche Totengesänge aus dem Lobgottes herunterleiern. Nichts hat er uns erspart am Grab. Nicht mal den Kirchenchor, dabei hat der doch während der Totenmesse schon mehr als genug Performance gehabt. Aber Elsie Kraft musste ja noch »Jesus lebt« trillern. Jesus lebt – schön, aber die Toten sind trotzdem tot, mausetot.
    Ja, Fanni hatte schlechte Laune, extrem schlechte Laune sogar. Sie hasste Beerdigungen. Es machte sie krank, zusehen zu müssen, wie ein Mensch, der zuvor noch gelacht, geweint, gesprochen hatte, der zu Besuch gekommen oder dem man im Supermarkt über den Weg gelaufen war, mit Erde zugeschaufelt wurde.
    Sie hatte versucht, sich vor dieser Beerdigung zu drücken. Aber damit war sie bei Hans Rot nicht durchgekommen.
    »Wenn der Bürgermeister zu Grabe getragen wird«, hatte ihr Mann kategorisch verkündet, »dann geht da die Gemeinde geschlossen hin. Auch die Fanni Rot!«
    Und Fanni hatte pflichtschuldigst ihren schwarzen Mantel, den Leni »Allerheiligenstandarte« nannte, aus dem »Schrank für in Misskredit geratene Kleidung« im Keller geholt.
    Die Kranzniederlegungen waren es schließlich, sinnierte Fanni, die sämtliche Birkdorfer Gemeindemitglieder an den Rand des Erfrierungstodes gebracht haben. Die haben glatt – sie sah auf ihre Uhr –, glatt eine Stunde gedauert. Feuerwehr, Waldbesitzerverein, Trachtenverein, Schützenverein …
    »Ist doch klar«, hatte Hans Rot geflüstert, als Fanni bei der achten Kranzniederlegung verzweifelt die Augen zum Himmel verdrehte, »das ist doch klar, dass der Bürgermeister sämtlichen Vereinen der Gemeinde angehören muss.«
    … CSU-Ortsgruppe, VDK, Bergwacht …
    »Ich wusste gar nicht, dass Birkdorf einen Bergrettungsdienst unterhält«, hatte Fanni zurückgeflüstert, »man kommt doch hier überall mit einem Fahrzeug der Ambulanz hin.«
    Sie hatte hinter sich leises Lachen vernommen und mit einem schnellen Blick erkannt, dass es von ihrem Nachbarn Böckl kam, von Böckl, dem Jäger und Büchsenmacher. Richtig. Hatte nicht Böckl neulich erst erzählt, dass er auf seinen Jagdausflügen kaum mehr einen Schritt zu Fuß gehen müsse? Im Geländewagen mit Allradantrieb zum Hochsitz, und »Peng«.
    Fanni betrat den Friedhof durch das Haupttor. Sie blieb einen Moment stehen und blinzelte. Noch wenige Minuten zuvor dicht an dicht von schwarz gekleideten Gestalten umringt, starrten die Grabsteine jetzt nackt und einsam von ihren Sockeln.
    »Mir war bis heute nicht klar«, murmelte Fanni, »was Birkdorf für eine große Gemeinde ist.«
    Sie konnte Hans Rots Antwort auf diese Weltfremdheit geradezu in ihrem Kopf hören: »Meine Güte, Fanni, um Birkdorf herum liegen doch jede Menge Weiler, die zur Gemeinde gehören. Welcher fiele denn da meinem Fannilein ein?«
    »Erlenweiler, Buchenweiler, Altfleck«, zählte Fanni auf, während sie den gekiesten Hauptweg des Birkdorfer Friedhofs entlangging – und Birkenweiler natürlich.
    Seit Jahrzehnten lagen sich Birkdorf und Birkenweiler wegen einer Namensänderung in den Haaren.
    »Wir sind und bleiben Birkdorf«, sagten die
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