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77 Tage

77 Tage

Titel: 77 Tage
Autoren: Lucie Flebbe
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1.
    Mein Herz rast.
    Es ist eng in den Häuserschluchten der Bochumer Innenstadt. Und dunkel. Keine Straßenlaterne, kein beleuchtetes Fenster in Sicht. Einzig ein weit entfernter Mond taucht zwischen den Dächern der Hochhäuser auf, wirft sein fahles Licht auf das farblose Pflaster der Fußgängerzone und verschwindet schon wieder hinter Wolkenfetzen.
    Die Stadt wirkt wie ausgestorben. Außer mir ist um diese Zeit niemand unterwegs. Die Stille ist ungewohnt und mein Herzklopfen unnatürlich laut zu hören. Genau wie das Echo meiner Schritte, das die düsteren Fassaden auf mich zurückschleudern. Es gaukelt mir fremde Schritte vor.
    Kann nicht sein. Ich bin allein.
    Zur Sicherheit umfasse ich den stabilen Plastikschaft des Federhalters in meiner Jackentasche fester.
    Ich nehme meinen Mut zusammen, bleibe stehen und sehe mich hastig um. Die Gassen enden im Schatten.
    Da! Wieder höre ich die Schritte. Kein Echo, kein Zweifel, jemand folgt mir. Eindeutig. Und rasch.
    Ich habe es geahnt. Ich renne los.
    Mein Verfolger beginnt ebenfalls zu laufen, bemüht sich nicht mehr, seine Geräusche zu dämpfen. Das Echo schwillt an, seine Schritte und meine, seine immer lauter.
    Der ferne Mond leuchtet über mir. Jetzt sehe ich den Mann, er ist groß und kräftig. Verdammt! Ich renne, so schnell ich kann, zwischen den eng stehenden Häusern hindurch, deren bröckelnde Mauern immer dichter zusammenzurücken scheinen. Doch mein Verfolger kommt mir immer näher. Schon kann ich seinen schnaufenden Atem hören, spüren, in meinem Nacken.
    »Nein!«, schreie ich laut, wirbele herum und reiße in der gleichen Bewegung den Federhalter in die Höhe, wie einen Dolch. Der Mann steht direkt vor mir. Mondlicht streift sein Gesicht und ich glaube, es zu erkennen.
    Mit aller Kraft ramme ich die scharfkantige Feder in seinen Körper, direkt vor der Nackenmuskulatur, an der Stelle, an der der Hals in die Schulter übergeht. Ich weiß, ich habe getroffen. Ich habe die lebenswichtigen Gefäße durchtrennt, die an dieser Stelle beinahe ungeschützt unter der Haut liegen.
    Trotzdem presse ich die Waffe mit beiden Händen tiefer in die Wunde. Warmes Blut strömt über meine Finger, meine Unterarme hinunter, lässt den Federhalter glitschig werden. Auch als der schwere Körper kippt wie ein gefällter Baum, lasse ich nicht los …
    Schweißgebadet fuhr ich hoch, sog keuchend Luft ein. Suchte das Blut an meinen Händen. Ich brauchte einen Moment, um mich zu orientieren, um zu begreifen, dass ich aufrecht im Bett saß. Im Schlafzimmer unserer Dachwohnung. Neben Danner.
    Mal wieder hatte mich meine Vergangenheit heimgesucht, ein bisschen in meinem Schlaf herumgespukt, wie ein gelangweiltes Gespenst.
    Mein Name ist Lila Ziegler, ich bin zwanzig Jahre alt und ich weiß, wie man einen Menschen tötet.
    Ich presste die Knöchel meiner geballten Fäuste gegen meine Stirn. Die eiskalte Zimmerluft half mir, wach zu wer den, während Danner murrend nach der dicken Daunendecke angelte, die ich in meiner Panik zur Seite geschleudert hatte. In einer Ecke der Fensternische pendelte eine dünne Spinne vor der beschlagenen Scheibe und mein hastiger Atem kondensierte milchigweiß in der eisigen Luft.
    »Wird sowieso Zeit, dass wir aufstehen«, brummte Danner nach einem Blick auf den Wecker.
    Wenig später hockte ich beim Zähneputzen auf der Kante der Wanne in unserem renovierungsbedürftigen Badezimmer und ließ meine nackten Waden von einem brummenden Heizlüfter wärmen. Die Wände waren altmodisch beige gefliest, mehrere Kacheln hatten Risse oder Löcher von Haken und Schränken, die längst nicht mehr hingen. Die Keramik von Waschbecken, Wanne und Klo hatte man im Kontrast zur Wandfarbe eine Nuance dunkler gewählt – kotbraun.
    Wie jeden Morgen störte mich meine Frisur. Von der Wannenkante aus konnte ich meinen Kopf im Spiegel über dem Waschbecken betrachten. Für die Ermittlungen zu unserem letzten Fall hatte ich meine langen Haare kurzerhand abrasiert. Statt bis über meine Schultern zu zotteln, strubbelte mein Blondschopf neuerdings streichholzkurz in alle Richtungen. Gewöhnungsbedürftig.
    Ohne die langen Haare konnte man mehr von mir sehen. Ich war mir allerdings nicht sicher, ob das ein Vorteil war. Mein Kinn und meine Nase sahen noch spitzer aus und ich konnte mich nicht mehr hinter meiner Frisur verstecken, wenn es nötig war. Meine Haare fehlten mir mehr, als ich erwartet hatte.
    Während das kleine Heizgerät weiter meine Füße wärmte, krabbelte
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