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77 Tage

77 Tage

Titel: 77 Tage
Autoren: Lucie Flebbe
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bevor ich mich umdrehte.
    Mein Vater füllte die Tür. Das war beachtlich, denn beide Flügel standen offen. Seine grauen Haarspitzen berührten den Rahmen über seinem Kopf.
    Sein grauer Oberlippenbart zog sich in die Breite, die Kaumuskulatur wölbte sich seitlich vor, als würde er die Zähne knirschend aufeinanderpressen.
    Seine Faust zuckt auf mich zu und ich weiß, dass ich mich nicht rechtzeitig wegdrehen kann. Es knackt, als der Schlag meine Wirbelsäule trifft. Der Schmerz rast meinen Rücken hinab, dunkle Punkte tanzen vor meinen Augen.
    Ich verdrängte die Erinnerung an den Schmerz und die Angst davor. Diesmal würde es anders laufen. Ich war nicht mehr hilflos. Ich richtete mich noch ein wenig gerader auf.
    »Nachdem du mich auf deine bekannt freundliche Art eingeladen hast, möchte ich die Gelegenheit nutzen, um dir meinen Freund Ben vorzustellen«, sagte ich.
    Irritiert flitzten die zusammengekniffenen Raubvogelaugen meines Vaters zu Danner. Hinunter, weil der gut einen Kopf kleiner war. Mein Vater musterte Danners Dreitagebart, die Wollmütze auf der Glatze, den zerschlissenen Parka und die Springerstiefel.
    »Du glaubst immer noch, du könntest dich über mich lustig machen?« Sein Nacken spannte sich, seine Schultern schienen breiter zu werden, sein Hals verschwand. Lange genug kannte ich diese Signale.
    Automatisch stellte ich ein Bein nach vorn, hielt den Füller fest umklammert, bereit, mich zu verteidigen.
    Mit aller Kraft ramme ich die scharfkantige Feder in seinen Körper. Dort, wo der Hals in den Nacken übergeht. Ich weiß, ich habe getroffen. Warmes Blut strömt über meine Finger meinen Arm hinunter, lässt den Federhalter glitschig werden.
    »Sonst jederzeit gern«, antwortete ich trotzig. »Aber heute bin ich hier, um dir zu sagen, dass du mich in Ruhe lassen sollst.«
    Er näherte sich. Wie ein Raubtier, das sich an seine Beute heranpirscht. Seine Augen glühten schwarz. Dass sie normalerweise blau waren wie meine eigenen, war nicht mehr zu erkennen.
    Arschloch!
    Ich war bereit, zu kämpfen. Egal, was es kostete.
    »Wag nie wieder, mich anzufassen«, warnte ich ihn. »Sonst rufe ich die Polizei. Ich schwöre, ich zeige dich an. Lass mich endlich in Ruhe.«
    Ich brach den Satz zu schnell ab, weil meine Stimme versagte. Mein Mund war trocken. Ich spürte meinen eigenen Schweiß nass unter meinen Achseln.
    Bloß jetzt nicht die Lippen lecken oder schlucken. Unverändert böse starrte ich meinen Vater an, obwohl mir das Herz bis zum Hals schlug.
    Ich bin kein Opfer mehr. Ich bringe dich um!
    Mein Vater zögerte. Sein Blick wanderte von meiner Mutter, die immer weiter zurückgewichen war, zu Claudius, der unbemerkt auf der Treppe aufgetaucht war.
    »Im Prozess hättest du nicht den Hauch einer Chance.«
    Danner griff unter seine Jacke, holte seine Digitalkamera hervor: »Um das zu ändern, würde ich gern ein paar Beweisfotos schießen.«
    Der Zorn meines Vaters flackerte unkontrolliert über sein Gesicht. Seine Fäuste zitterten.
    Der Füller in meinen verkrampften Fingern ebenfalls.
    Die Stille schien in der Eingangshalle der Villa zu vibrieren.
    »Raus!«, krächzte mein Vater schließlich tonlos. »Ich will dich nie wieder sehen, verstanden?«
    »Dann sind wir uns ja einig«, zischte ich zurück. Rückwärts bewegte ich mich zur Eingangstür, ohne ihn aus den Augen zu lassen.
    Meine Mutter weinte. Ich sah es aus den Augenwinkeln, am Zucken ihrer Schultern.
    »Tschüss, Mutter«, sagte ich deshalb doch noch, bevor ich ins Freie schlüpfte.
    Danner zog die Tür hinter uns zu.
    Ich trat ein paar Schritte zurück und wartete auf die Explosion, die das Haus wackeln und Rauch aus den Fenstern quellen ließ, bevor mein Vater die Haustür aufriss und auf mich losstampfte wie ein Bulle mit BSE.
    Doch nichts dergleichen passierte. Alles blieb ruhig. Beinahe gespenstisch.
    War die Schlacht wirklich geschlagen?
    »Nette Familie«, bemerkte Danner. »Glückwunsch.«
    Schweigend stieg ich die Mamorstufen hinunter. Plötzlich nahm ich das Zwitschern der Vögel wahr. Laut. Erstaunt sah ich auf zu den blattlosen Kronen der uralten Bäume. Und bemerkte die Fetzen von hellem Blau zwischen den aufreißenden Wolken. Irritiert blinzelte ich. Noch nie hatte ich den Himmel so blau gesehen.
    Im gleichen Moment füllten sich meine Augen mit Wasser. Ich konnte die Tränen nicht mehr daran hindern, über meine Wangen zu kullern.
    Wie selbstverständlich nahm Danner meine verkrampfte, kalte Hand in seine kräftige,
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