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77 Tage

77 Tage

Titel: 77 Tage
Autoren: Lucie Flebbe
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Bild.
    Nie hätte ich die tüchtige Anna mit der unsicheren Bella in Verbindung gebracht. Es war, als hätte ich Annabell Willms von innen und außen kennengelernt und dabei zwei vollkommen unterschiedliche Menschen getroffen.
    War das Schizophrenie?
    Geduldig lächelnd hatte sie ihrem Mann immer wieder verziehen und sich eingeredet, dass er im Grunde ein netter Kerl war und sie selbstverständlich gleichberechtigt, wie es sich gehörte. Nur sein Umgangston war eben ein wenig unpassend.
    »Familiendrama«, flüsterte eine Nachbarin hinter der Po-lizeiabsperrung. »Vierzehn Messerstiche, furchtbare Sache.«
    Kurz sah ich mich nach der raunenden Menge um. An die zwanzig Menschen drängelten sich trotz des Regens hinter dem Flatterband.
    Schon wollte ich mich wieder abwenden, als mir eine Person auffiel. Ich richtete mich auf.
    Gülcan stand bewegungslos zwischen den aufgeregten Nachbarn. Ihre schwarzen Haare waren nass, das Wasser rann über ihr Gesicht. Doch die geröteten Ränder ihrer Augen ließen mich bezweifeln, dass nur der Regen schuld daran war. Unsere Blicke trafen sich.
    Gülcan hatte gewusst, wer hinter Bellas Blog steckte. Sie hatte Anna Willms Hilfe angeboten. Sie hatte die Gefahr gesehen. Auch Anna Willms hatte nicht auf Gülcan gehört.
    War ›Familiendrama‹ nur ein anderes Wort für ›Ehrenmord‹?
    Ich beobachtete, wie die dunkel gekleideten Letzte-Hilfe-Leister des Bestattungsunternehmens Schlichte Anna Willms’ Sarg durch den Regen davonschleppten.
    Bella war tot. Gülcan hatte überlebt. Hedi Sundermann hatte gemordet, um sich zu wehren. Über meine Mutter brauchte man nicht zu reden. Und sogar Danner wünschte sich für seine Beziehung eine Gegnerin wie für einen Boxkampf.
    War das Zufall? War das nur eine merkwürdige Lebensphase, in der zufällig alle Frauen um mich herum Gewalterfahrungen machten? Oder war das eine Realität, die ich bisher nur nicht wahrgenommen hatte?
    War Gewalt die Norm und alles andere eine Ausnahme?
    Mein Leben lang hatte ich geglaubt, allein zu sein. Hatte geschwiegen, aus Angst und Scham. Hatte gedacht, was mir passierte, sei zu krass, als dass mich jemand verstehen könnte.
    Ich presste mir die Hände auf die Augen.
    Egal. Eins wusste ich sicher: Ich wollte keine Mörderin werden wie Hedi Sundermann. Doch länger zu den Opfern gehören, das wollte ich noch weniger.

36.
    »Wir sollten die Polizei einschalten, ernsthaft«, versuchte Danner noch einmal, mich zu überzeugen, als er die Schrottschüssel anhielt, um eine grüne S-Bahn kreuzen zu lassen.
    Ich starrte in die hannoversche Nordstadt, die mir so fremd schien, als wäre ich Jahre weg gewesen. Die Herrenhäuser Gärten mit ihren noch winterlich matten Grünflächen, Teichen und den unendlichen Alleen blattloser Bäume, die irgendwo im Grau verschwanden. Alles so schnurgerade, so aufgeräumt, so unnatürlich.
    »Die werden den Herrn Oberstaatsanwalt natürlich sofort verhaften, wenn meine Mutter und mein lieber Bruder ihr Loblied auf ihn singen«, murrte ich. »Und wenn er ihnen mit der Versetzung in ein Kuhkaff und einem Fahrrad als Dienstfahrzeug droht.«
    Danner bog schweigend ab.
    Ich drehte den Federhalter in meiner Jackentasche, ballte meine Faust fest um den dicken, stabilen Schaft, löste meine Finger und drehte ihn erneut.
    Ausholen, beschleunigen, mit aller Kraft zustechen. Die scharfkantige Feder, so tief ich kann, in seinen Körper pressen. Festhalten. Bis er zusammensackt, vor meine Füße fällt und liegen bleibt.
    Die akkurat geschnittene Hecke erkannte ich sofort, als die Schrottschüssel mit aufheulendem Motor um die Ecke röhrte. Die schnurgerade gestutzten Buchsbäume säumten die rechte Straßenseite wie eine grüne Mauer. Der Garten dahinter unterschied sich nur unwesentlich von den protzigen Parkanlagen der Welfen und Hohenzoller. Die Kieswege waren geharkt, die Eichen uralt, der rote Backstein der Hausfront war mit Efeu berankt. Zwischen den blattlosen Kronen der Bäume erhoben sich die drei Stockwerke der Villa, die Dächer und Erker des Hauses. Rechts hinter dem Hauptgebäude lagen die ehemaligen Stallungen. Sie dienten schon lange als Garagen, trotzdem standen noch immer auch zwei blank polierte Kutschen darin. Neben dem Minitraktor für die Rasenflächen. Seit Generationen war das Anwesen im Besitz meiner Familie.
    Ein ungutes Gefühl kribbelte in meinem Magen. Eigentlich hatte ich nicht vorgehabt, noch einmal zurückzukommen.
    Danner stoppte die Schrottschüssel vor der
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