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Der Codex

Titel: Der Codex
Autoren: Douglas Preston
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    Tom Broadbent nahm die letzte Kurve der sich dahi n schlängelnden Straße und stellte fest, dass seine beiden Brüder bereits am großen Eisentor des Landsitzes der Broadbents warteten. Philip klopfte an einem Torpfosten gereizt die Tabakskrümel aus seiner Pfeife, und Vernon betätigte mehrmals energisch den Klingelknopf. Das Haus stand in finsterem Schweigen hinter ihnen und ragte wie der Palast eines Paschas auf dem Hügel auf. Reihen von Fenstern, Schornsteine und Türmchen glitzerten im hellen nachmittäglichen Sonnenschein von Santa Fe, New Mexico.
    »Vater ist doch sonst immer pünktlich«, sagte Philip. Er steckte sich die Pfeife zwischen die weißen Zähne und biss leise klickend auf das Mundstück. Dann drückte auch er den Klingelknopf, schob seine Manschette hoch und warf einen Blick auf die Armbanduhr. Tom fand, dass Philip sich kaum verändert hatte: Bruyere-Pfeife, ironischer Blick, glatt rasierte Wangen, Rasierwasser, das Haar aus der hohen Stirn nach hinten gekämmt. An seinem Handgelenk funke l te eine goldene Uhr. Er trug graue Hosen und ein Marin e jackett. Sein britischer Akzent klang noch etwas versnobter als sonst. Im Gegensatz zu ihm wirkte Vernon mit seiner Gaucho-Hose, den Sandalen, dem langen Haar und dem Bart wie Jesus.
    »Er führt uns schon wieder an der Nase rum.« Vernon drückte abermals den Klingelknopf. Der in den Pifton-Bäumen wispernde Wind brachte den Duft von warmem Harz und Staub mit. In dem großen Haus blieb alles still.
    Als Philip sich Tom zuwandte, wehte der Geruch teuren Pfeifentabaks durch die Luft. »Wie ist die Lage bei den I n dianern draußen, Tom?«
    »Bestens.«
    »Freut mich zu hören.«
    »Und bei dir?«
    »Fantastisch. Könnte nicht besser sein.«
    »Vernon?«, fragte Tom.
    »Alles im Lot. Keine Probleme.«
    Das Gespräch erstarb. Sie schauten sich an. Dann blickten sie verlegen in eine andere Richtung. Tom hatte seinen Brüdern noch nie viel zu sagen gehabt. Über ihnen flog krächzend eine Krähe dahin. Eine unbehagliche Stille senkte sich auf die am Tor versammelte Gruppe herab. Nach einer Weile setzte Philip der Klingel erneut heftig zu. Schließlich warf er einen finsteren Blick durch das Tor und packte das gusseiserne Gestänge. »Sein Wagen steht noch in der Gar a ge. Vielleicht ist ja nur die Klingel kaputt.« Er holte tief Luft. »Hallooo! Vater! Deine anhänglichen Söhne sind da!«
    Ein quietschendes Geräusch ertönte, dann öffnete sich das Tor unter dem Druck seiner Hände.
    »Es ist gar nicht abgeschlossen«, sagte Philip überrascht. »Aber sonst lässt er es doch nie offen stehen!«
    »Er ist drin und wartet auf uns«, meinte Vernon. »Das ist alles.«
    Sie drückten das Tor mit den Schultern auf, und es schwang auf quietschenden Scharnieren beiseite. Vernon und Philip schritten zu ihren Autos, um sie auf dem Grundstück zu parken. Tom ging zu Fuß weiter. Kurz da r auf stand er vor dem Haus, in dem er seine Kindheit ve r bracht hatte. Wie viele Jahre waren seit seinem letzten B e such vergangen? Drei? Es erfüllte ihn mit eigenartigen und widersprüchlichen Gefühlen: Der Erwachsene kehrt an den Ort seiner Kindheit zurück. Die Größe des Anwesens war selbst für Santa Fe von protzigem Prunk. Die kiesbestreute Zufahrt führte in einem Halbkreis an zwei massiven Tü r flügeln aus dem 17. Jahrhundert vorbei. Die Tür bestand aus handgeschlagenen Mesquite-Platten. Das Haus war ein Kunstwerk der Bildhauerei für sich - ein mit abgerundeten Mauern versehenes niedriges Gebäude aus Adobeziegeln, verzierten Strebepfeilern, Vigas, Latillas, Nischen, Portalen und echten Schornsteinkappen. Umgeben war es von Pa p peln und einer smaragdgrünen Wiese. Da es auf einer H ü gelkuppe stand, hatte man eine wunderbare Aussicht auf die Berge, die Hochwüste, die Lichter der Stadt und die über den Jemez-Bergen aufziehenden sommerlichen Kumuluswolken. Es hatte sich zwar nicht verändert, doch wirkte seine Ausstrahlung irgendwie anders. Vielleicht, dachte Tom, habe ich mich ja verändert.
    Eines der Garagentore stand offen. Tom sah, dass der grüne Mercedes-Geländewagen seines Vaters in der Nische abgestellt war. Dann hörte er die Fahrzeuge seiner Brüder über den Kies der Zufahrt knirschen. Sie parkten vor dem Haupteingang. Türen wurden zugeschlagen, dann gesellten sich die beiden zu Tom, der bereits vor dem Haus stand.
    Gleichzeitig machte sich in Toms Magen ein mulmiges Gefühl breit.
    »Worauf warten wir?« Philip ging zum Haupteingang hinauf
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